Die Zeichen stehen auf Bürgerentscheid zur CityBahn. Mit Blick auf die Bevölkerungszahlen der beteiligten Gemeinden kann aber sauer aufstoßen, dass zwei Drittel der betroffenen Bürger nicht abstimmen dürfen. Wir zeigen euch, wen es trifft, warum das ein Problem ist und zeigen euch eine mögliche Lösung des Dilemmas.
Donnerstag wird es spannend: Zur anstehenden Stadtverordnetenversammlung stehen gleich sechs Anträge auf der Tagesordnung, die für die CityBahn relevant sind. So beantragt die Fraktion LKR&ULW die Prüfung einer normalspurigen Zweisystem-Stadtbahn in Wiesbaden, die FDP einen Akteneinsichtausschusses und das Rechtsamt, vertreten Dr. Franz, wird die juristische Einschätzung der Rechtmäßigkeit beider Anti-Straßenbahn-Bürgerinitiativen verkünden. Hinzu kommen gleich drei Anträge auf ein Vertreterbegehren zur CityBahn – einer der SPD, einer der AfD und einer der FDP.
Wie repräsentativ ist ein Bürgerentscheid?
Die Zeichen stehen auf Bürgerentscheid. Unabhängig davon, wann dieser angesetzt wird und mit welcher Fragestellung, lohnt sich ein Blick auf die Frage: Wer darf abstimmen? Und vor allem: Wer darf nicht abstimmen?
Unstrittig ist, dass es sich bei der CityBahn um das wohl größte und meistdiskutierte Verkehrsprojekt der Region handelt. Abgestimmt wird aber nur in einer der vier betroffenen Städte: Wiesbaden. Rheinland-Pfalz lässt – wie viele andere Bundesländer auch – keine Bürgerentscheide zu, wenn das Vorhaben ein Planfeststellungsverfahren erfordert1Siehe §17a, GemO Rheinland Pfalz. In Hessen sind Bürgerentscheide dann zulässig, wenn es sich um „eine wichtige Angelegenheit der Gemeinde“2Siehe §8b HGO handelt. Da der Rheingau-Taunus-Kreises insgesamt in das Projekt CityBahn eingestiegen ist, ist die CityBahn keine Angelegenheit der Städte Taunusstein und Bad Schwalbach mehr – bleibt also Wiesbaden.
Von vier betroffenen Städten soll es am Ende also eine entscheiden. Von den rund 557.000 Einwohnern sind nur ein Drittel stimmberechtigt. Selbst wenn davon die Hälfte wählen geht (was für Bürgerentscheide überdurchschnittlich viel wäre) – so wären am Ende fünf von sechs Betroffenen an der Entscheidung gar nicht beteiligt.
Wer in Wiesbaden wahlberechtigt ist, regelt in diesem Falls die Hessische Gemeindeordnung:
(1) Wahlberechtigt ist, wer am Wahltag
§ 30 HGO – Aktives Wahlrecht
1. Deutscher im Sinne des Art. 116 Abs. 1 des Grundgesetzes oder Staatsangehöriger eines der übrigen Mitgliedstaaten der Europäischen Union mit Wohnsitz in der Bundesrepublik Deutschland (Unionsbürger) ist,
2. das achtzehnte Lebensjahr vollendet hat und
3. seit mindestens drei Monaten in der Gemeinde seinen Wohnsitz hat; Entsprechendes gilt für den Ortsbezirk (§ 81).
(…)
Wer bleibt unberücksichtigt?
Die größten, nicht abstimmungsberechtigten Gruppen sind die Einwohner von Mainz, Taunusstein und Bad Schwalbach. Hier werden knapp 200.000 eigentlich wahlberechtigte Bürger ausgeschlossen, weil es die rechtlichen Rahmen so definieren. Darüber hinaus gibt es aber auch in Wiesbaden große Bevölkerungsgruppen, die nicht abstimmungsberechtigt sind. Dabei handelt es sich vor allem um
- knapp 5.000 Jugendliche im Alter von 16-17 Jahren. Während das aktive Wahlrecht ab 16 Jahren in vielen anderen Bundesländern Standard ist, darf in Hessen erst ab 18 gewählt werden. Dabei sind die heutigen Jugendlichen diejenigen, die am längsten von den positiven wie negativen Effekten heutiger Entscheidungen betroffen sind. Nochmal knapp 5.300 Menschen dürften zusätzlich abstimmen, wenn beispielsweise ab 14 Jahren gestimmt würde.
- knapp über 15.500 Europäer, die aber keine EU-Staatsbürger sind. Die größten Gruppen darunter sind hier lebende Staatsbürger der Türkei (10.000), Russland (1.000), Bosnien (900) und zusätzlich – je nach Verlauf der Verhandlungen – knapp 600 Briten.
- fast 10.500 hier lebende Menschen, die Staatsbürger eines außereuropäischen Staates sind – hier vor allem Marokko (1.700) und die USA (1.200).
- 4.700 Deutsche und EU-Ausländer mit Zweitwohnsitz in Wiesbaden.
Die Bevölkerungszahlen basieren auf dem Zensus 2011 – hier wurde der relative Anteil der jeweiligen Bevölkerungsgruppe als Grundlage genommen und auf Basis der aktuellen Bevölkerungszahl hochgerechnet. In den Zahlen zu den Staatsangehörigkeiten stecken auch Kinder und Jugendliche, werden aber im Zensus nicht weiter differenziert.
All diese Menschen wohnen aber in Wiesbaden, zahlen Steuern und haben berechtigte Argumente für oder gegen die CityBahn. Besonders zu bemerken ist hier, dass einige dieser ausgeschlossenen Bevölkerungsgruppen deutlich stärker auf einen funktionierenden Nahverkehr angewiesen sind. So haben unter-18-jährige gar nicht die Alternative eines eigenen Autos. Auch ist der Anteil derjenige, die keinen Führerschein haben, unter Nichtdeutschen höher als unter Deutschen.
Alternative Delegated Voting?
Auch wenn das eigene, demokratische Verständnis die Einsicht gewinnt, dass ein auf bestimmte Gruppen begrenzter Bürgerentscheid der Tragweite dieses Projektes nicht gerecht wird – was dann? Eine Delegation der Entscheidung auf die Gemeindegremien wäre dann jedenfalls keine Alternative – denn deren Wahl unterliegt denselben, kritisierten Einschränkungen.
Der rechtliche Rahmen, in der sich die Mitbestimmungsmöglichkeiten von zwei kreisangehörigen Städten und zwei kreisfreien Städten aus zwei Bundesländern bewegt, ist starr und verzwickt. Es wäre unrealistisch, hier auf eine zeitnahe, bundeseinheitliche Lösung zu hoffen oder gar auf die Idee zu kommen, Taunusstein nach Wiesbaden einzugemeinden.
Das Kernproblem bleibt: in drei der vier involvierten Städte ist kein Bürgerentscheid vorgesehen. Es ist in Mainz, Bad Schwalbach und Taunusstein also nicht erlaubt, dass die Bürger beim Thema CityBahn anstelle der Gemeindevertretung eine verbindliche Entscheidung treffen. Das verbietet allerdings nicht, dass die Stadtverordnetenversammlungen aller vier Städte diese Entscheidung durch die Bürger treffen lassen.
Angenommen, alle vier Städte beschließen eine umfassende Bürgerbefragung zur CityBahn. Wann und welche Fragestellung konkret gilt es natürlich zu klären. Dann könnten oben genannte Schwächen kompensiert werden, indem alle Bürger der betroffenen Städte gleichermaßen befragt werden – auch inklusive 16/17-Jähriger und der hier lebenden, ausländischen Staatsbürger. Wenn die Abgeordneten ihre Entscheidung zum Thema CityBahn vom Ausgang dieser Befragung abhängig machten, bliebe die Fällung der Entscheidung in den Händen der Abgeordneten; der Ausgang würde aber von den Bürgern bestimmt. Damit das funktioniert, müssen natürlich von vornherein Bedingungen erfüllt sein.
- So müssen alle vier Gemeindevertretungen diese Bürgerbefragung beschließen und sich schon vorher dazu verpflichten, sich danach an das Ergebnis zu halten. Das Ergebnis wäre hier die Mehrheit aller befragten Bürger der vier Städte. Aus den Abgeordneten werden also Delegierte.
- Die Befragung muss das Ziel haben, möglichst viele Menschen einzubinden – vielleicht sogar alle. Eine Stichprobe oder Umfrage wäre wenig zielführend.
- Die Befragung muss methodisch sauber sicherstellen, dass das Ergebnis repräsentativ für die Gesamtbevölkerung ist – die unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen also auch trotz verschiedenen Rückmelde- und Mobilisierungsraten gleichermaßen und auf Basis ihrer tatsächlichen Größe repräsentiert werden.
Derartige Ansätze einer flexibleren, themenbezogenen demokratischen Entscheidungsfindung sind ungewohnt, weil neu. An konkreten Ideen einer solchen liquid democracy bzw. des delegated voting mangelt es aber nicht. Einige, wenn auch meist zögerliche Praxisbeispiele und erste Erfahrungen aus deutschen Kommunen existieren schon.
Mit diesem Ansatz könnten statt der 35% Wahlberechtigte (aktuell) je nach Gestaltung bis zu 85% der Bürger einbezogen werden. Wem es tatsächlich um demokratische Mitbestimmung geht (und nicht nur ums bloße Verhindern der CityBahn), der muss dieser Möglichkeit zumindest einen gewissen Charme zugestehen. Ihr seid ausdrücklich eingeladen, unter diesem Artikel mitzudiskutieren!
EDIT: In einer früheren Version des Artikels wurde Kroatien tatsächlich als nicht-EU-Mitglied gezählt. Das war zum Zeitpunkt des Zensus auch korrekt, am 01. Julie 2013 trat Kroatien allerdings der Europäischen Union bei. Der Artikel wurde entsprechend korrigiert.
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Quellen