03.12. – Curitiba: begrüntes Wachstum

Curitiba, 1654 als Goldgräberlager gegründet und seit 1854 die Hauptstadt des Staates Paraná im Südosten Brasiliens, boomt. Die südbrasilianische Metropole wächst und wächst, beinahe explosionsartig. Ihre Einwohnerzahl schnellte seit Mitte des vergangenen Jahrhunderts von 180.000 auf heute knapp 2 Millionen hoch, das ebenfalls expandierende Umland nicht mitgerechnet.

Dieser weltweit zu beobachtende Sog der Ballungsräume zieht üblicherweise Probleme wie Slumbildung, Verkehrschaos, Luft- und Wasserverschmutzung sowie die Zerstörung natürlicher Ruheräume mit sich. Ohne Rücksicht auf die Umwelt, versuchen die Verantwortlichen meist etwas hilflos die wachsende Autoflut mit Schnellstraßen, komplizierten Ampelsteuerungen und Parkhäusern zu kanalisieren. Das Auto wird zum heimlichen Chefplaner, bestimmt die Straßenführung, beeinflusst die Lage von Wohngebieten, Geschäftsvierteln, Gewerbe- und Industriezonen und prägt sogar das soziale Gefüge.

Nicht so in Curitiba. Trotz der für die Region typischen Armut und Finanzschwäche weist die Millionenstadt eine viel geringere Umweltverschmutzung, eine etwas niedrigere Kriminalitätsrate und ein höheres allgemeines Bildungsniveau auf. Woran liegt das?

Die Stadtplaner unter dem vorausschauenden Bürgermeister Jaime Lerner, einem Architekten und Raumplaner, bis 1992 an der Stadtspitze, haben sich über eingefahrene Stereotypen hinweggesetzt und modellhaft vorgeführt, wie sich mit einfachen, umweltkonformen Maßnahmen die Probleme eines rasch expandierenden Gemeinwesens besser lösen lassen als mit aufwendiger Technik. Eine fortschrittliche Verwaltung räumt dem öffentlichen Nahverkehr Vorrang vor dem Individualverkehr ein, bezieht die Umwelt ein statt sie auszugrenzen, beteiligt die Bürger an der Stadtplanung statt diese von oben auf dem Reißbrett zu verfügen.

Es begann mit Vorkehrungen vor Überflutungen. Die Uferzonen der fünf saisonal anschwellenden Flüsse wurden von jeder Besiedlung freigeräumt, stattdessen Parkflächen angelegt und nicht weniger als eine Million Bäume gepflanzt. Wo heute der Botanische Garten liegt, dümpelte früher eine stinkende Müllhalde vor sich hin. Auch nicht mehr benutzbare Fabrikgebäude und Bauten in den Überschwemmungsgebieten wurden zu Sport- und Freizeitanlagen umgebaut. Buslinien und Radwege verbinden diese Grünzonen mit dem innerstädtischen Verkehrssystem.

Exklusive, breite Bustrassen und modern gestaltete Hochbahnsteige (links hinter dem Bus) erlauben der Stadt den Einsatz eines leistungsfähigen Metrobussystems.

(Bild: Missão Russa ao Brasil flickr photo by EMBARQ Brasil | WRI Brasil Cidades Sustentáveis shared under a Creative Commons (BY-NC) license )

Wohl der augenfälligste Unterschied zu anderen Städten: Es gibt kein abgezirkeltes Zentrum, in das überfüllte Schnellstraßen münden – mit dem üblichen durch Auto-Pendler verursachten Verkehrsinfarkt. Curitiba dagegen förderte während der siebziger Jahre ein sternförmiges Wachstum entlang festgelegter Achsen. Zugleich sorgte es durch die Entwicklung von Massentransportmitteln für gute Verbindungen zwischen Wohngebieten, Geschäftsvierteln und Arbeitsstätten. Dieses Straßennetz und das öffentliche Verkehrssystem haben das Stadtbild entscheidend geprägt.

Auf den Mittelstreifen der fünf Hauptachsen haben Schnellbusse freie Fahrt. Beiderseits sind schmale lokale Straßen zur Anbindung der bebauten Areale angelegt. Einen Block weiter verläuft jeweils eine breite Einbahnstraße, die auf der einen Seite in die City hinein und auf der anderen aus ihr heraus führt. Ergänzend zu den Schnellbuslinien gibt es lokale Busse und solche, die zwischen den Stadtteilen verkehren; hinzu kommen Zubringer in den Außenbezirken. Große Terminals an den Enden der Trassen sowie mittelgroße überdachte Haltestellen im Abstand von etwa zwei Kilometern erleichtern das Umsteigen auf andere Linien, deren Benutzung im Fahrpreis inbegriffen ist.

Durch gesetzliche Regelung der Flächennutzung unmittelbar neben den Hauptachsen ließ sich eine dichte Besiedlung erreichen, die Geschäfte und Dienstleistungsbetriebe einschließt. Die Stadt unterstützt dieses Wachstumsmuster mit einem öffentlichen Transportsystem, das auf Bequemlichkeit und Schnelligkeit ausgerichtet ist. Der öffentliche Personentransport ebenso wie Fußgänger genießen Priorität vor privaten Kraftfahrzeugen. Radwege und Fußgängerbereiche sind fester Bestandteil des Verkehrsnetzes, während andernorts großangelegte Straßenbauprogramme nur noch größere Blechlawinen, Staus, Parkplatznöte und Luftverschmutzung verursacht haben.

Mit der großflächigen Anlage von Grünanlagen in Überschwemmungsgebieten begann die Umwandlung von Curitiba in eine lebenswerte und umweltfreundliche Metropole.

(Bild: Curitiba Botanic Garden panorama flickr photo by eugeni_dodonov shared under a Creative Commons (BY) license )

Trotz des effizienten und komfortablen Vorankommens geben die Bewohner Curitibas im Durchschnitt nur rund 10 Prozent ihres geringen Einkommens für Beförderungszwecke aus – für Brasilien ist das relativ wenig. Allerdings ist auch hier der Kampf gegen das Statussymbol Auto nicht zu gewinnen. Die Zahl der Privatautos pro Kopf liegt in Curitiba sogar noch über dem Landesdurchschnitt. Allerdings für den Weg zur Arbeit nehmen drei Viertel aller Pendler den Bus – was einem täglichen Fahrgastaufkommen von über 1,3 Millionen entspricht. Dank großer Nachfrage und effizienter Nutzung vermag das öffentliche Nahverkehrssystem sich selbst zu tragen. Zugleich ist der Benzinverbrauch pro Kopf der Bevölkerung um 25 Prozent geringer als in vergleichbaren Städten Brasiliens. Entsprechend hat Curitiba mit die sauberste Luft im Land.

Die Stadtverwaltung hat früh gelernt, dass sinnvolle Planungen allein nicht ausreichen. Am Anfang standen eine Vision und ein Grundkonzept für die künftige Stadtentwicklung. Umgesetzt wurde es jedoch nicht durch das bürokratische Verordnen eines Maßnahmenkatalogs, sondern mittels Einbindung der Bürger und Anreizen zur Beteiligung.

Dazu gehört insbesondere ein öffentliches Informationssystem, das unmittelbar Auskunft über Bodennutzungs- und Bebauungsmöglichkeiten für jedes beliebige Grundstück gibt. Wer eine Betriebs- oder Erneuerungsgenehmigung erhalten will, muss angeben, welche Auswirkungen auf den Verkehr und städtische Belange zu erwarten sind. Die schnelle Verfügbarkeit dieser Informationen wirkt der Bodenspekulation entgegen; die Angaben sind aber ebenso wichtig für den Entwurf des Haushaltsplans, da Grundsteuern die Haupteinnahmequelle der Stadt bilden.

Auch die verschiedenen Stadtzentren laden rund um die Uhr zum Verweilen ein. Nirgendwo sonst in brasilianischen Metropolen können sich Besucher so sicher fühlen wie in Curitiba.
(Bild: Curitiba flickr photo by Rodrigo Faustini shared under a Creative Commons (BY-NC-ND) license )

Statt die Polizeipräsenz zu erhöhen, hat Curitiba das Konzept der 24-Stunden-Straße entwickelt: einer Passage mit Restaurants und Geschäften, die Tag und Nacht geöffnet sind. Ein voller Erfolg. Während andere Großstadtzentren nach Feierabend veröden oder zu Brutstätten von Kriminalität werden, lädt Curitiba als weltoffene, pulsierende Stadt zum Verweilen ein.

Erwünschtes Verhalten wird auch sonst gefördert. Eigentümer von Grundstücken in der Altstadt können ihr Bebauungsrecht auch in anderen Stadtteilen ausüben. So wird die historische Bausubstanz erhalten, während die Besitzer fairen Ersatz bekommen. Bis in den privaten Bereich zielen Anreize zu Gemeinsinn. Curitibas Freie Umweltuniversität bietet Hausgehilfen, Polieren, Ladenbesitzern und anderen kostenlose Kompaktkurse, um sie über die ökologischen Auswirkungen selbst der einfachsten alltäglichen Verrichtungen zu unterrichten. Die von geschulten Fachkräften abgehaltenen Lehrgänge sind Voraussetzung für die Arbeitserlaubnis in einigen Berufen wie Taxifahren, aber viele Interessenten besuchen sie freiwillig.

Die Stadt sorgt auch dafür, dass weniger Abfälle entstehen und der Rest wirksam beseitigt wird. Die Bürger recyceln täglich eine Papiermenge, die über tausend Bäumen entspricht. Die Initiative „Müll ist nicht gleich Müll“ hat mehr als 70 Prozent der Haushalte dazu gebracht, wiederverwendbares Material sammelgerecht zu sortieren. Das Müll-Abkauf-Programm für Gebiete mit armer Bevölkerung hilft, Stadtbereiche sauber zu halten, die konventionell schwierig zu entsorgen wären: Schon seit den 90er Jahren könnten Familien aus sozial schwachen Vierteln tonnenweise Müll in Nahrungsmittel oder Bus-Gutscheine eintauschen. Im Rahmen der Aktion „Alles sauber!“ werden überdies zeitweilig Arbeitslose und Rentner angestellt, um Schmuddelecken aufzuräumen. So werden nicht nur Ressourcen geschont und Beschäftigungsmöglichkeiten geschaffen. Die Stadt ist noch mal schöner geworden.

01.12. – Ljubljana: Geht doch!

Was für manchen notorischen Autofahrer einer schauderhaften Schreckensvision gleichkommt – in Wiesbadens Partnerstadt ist dies seit Jahren – im Wortsinn – gängige Praxis. Im gesamten Altstadtkern der slowenischen Hauptstadt Ljubljana dröhnt kein Verbrennungsmotor. Seit 2007 sind die Gassen rund um den Fluss Ljubljanica vollkommen autofrei. Mobilität findet hier zu Fuß, mit dem Fahrrad oder, wer Bedarf hat, kostenfrei auf einem der gemächlich zirkulierenden Elektrokarren, Marke „Kavalier“, statt.

Sind die zentralen Einkaufsstraßen seitdem verödet? Die Konsumenten in die Außenbezirke ausgewichen? Der Anschein ist ein anderer. Die Geschäfte im Stadtzentrum erscheinen gut besucht, tote Schaufenster sind nicht zu erkennen. Ein Restaurant, Café oder Lokal reiht sich in dichter Folge an das andere. Sie nehmen sich dabei nicht gegenseitig die Gäste weg, im Gegenteil: für jeden Bedarf gibt es den passenden Ort. Sicher ist das zu einem guten Teil dem studentischen Milieu und dem florierenden Tourismus zu verdanken. Aber Besucher zieht es schließlich nicht ohne Grund in spürbar entspannte Gefilde. Zudem finden sie dort nicht nur Souvenirs, sondern auch Lebensmittel, Drogeriewaren, Kleidung und Bücher Absatz. Einkaufen macht ganz offenkundig mehr Spaß ohne Gefahr, Gehetze und Lärm.

Früher Parkplatz, heute Marktplatz: Ernte einer ertragreichen Stadtgestaltung. (Bild: Ljubljana: Central Market flickr photo by Jorge Franganillo shared under a Creative Commons (BY) license )

Wo sich früher ein qualmender Autopulk durch romantisch anmutende Gassen wälzte, laden neugestaltete Promenaden zum Flanieren, ganzjährig geöffnete Außenterrassen zum Verweilen ein. Der einst größte Parkplatz der Innenstadt beherbergt heute Bühnen, Freiluftkinos oder Marktstände. Die Anwohner können ihre Fahrzeuge unterirdisch abstellen. Doch die einstige Blechflut wird nicht einfach um eine autofreie Oase herumgeleitet. Während die Altstadt zur Fußgängerzone wurde, machten sich die Stadtgestalter bereits an die Verkehrsberuhigung der Innenstadt und kappten dabei auch die schon von den Römern angelegte, frühere Hauptverkehrsader. Hier haben nun Busse, Räder und Füße Vorrang. Insbesondere für RadfahrerInnen ist die slowenische Hauptstadt mit hunderten von eigenen Fahrspuren und einem flächendeckenden Verleihsystem ein Paradies. Unter den 20 fahrradfreundlichsten Städten der Welt rangiert sie zeitweise auf Platz 8.

Viel Platz für Menschen bietet die Altstadt von Wiesbadens Partnerstadt Ljubljana. (Bild: Ljubljana flickr photo by ChrisYunker shared under a Creative Commons (BY) license )

Natürlich erntete die einschneidende Umgestaltung einer legendären Verkehrshölle zum stadtplanerischen Vorzeigeprojekt nicht bei allen 280.000 BewohnerInnen auf Anhieb Beifall. Viele Widerstände waren zu überwinden, die oft aus der Macht jahrzehntealter Gewohnheiten resultierten.

Der verantwortliche Stadtplaner Janez Kozelj wählte dabei nicht den Weg langwieriger Diskussionen und Bürgerbefragungen, ein besonderer Umstand kam ihm zugute. Bauzäune, um die der übliche Verkehrsfluss zwei Jahre lang geleitet werden musste, gewöhnten die Einheimischen behutsam an eine neue Straßenführung. „Eine Baustelle ist leichter zu verkaufen als eine Begegnungszone“, erklärte der Architekturprofessor unumwunden. Irgendwann kannten die Verkehrsteilnehmer es nicht mehr anders und hatten sich damit arrangiert, inzwischen auch mit der lärm-, stress- abgas- und risikoarmen Fortbewegung angefreundet.

Autositze finden mitunter nachhaltige Verwendung, hier in einem Straßentheater unter freiem Himmel. (Bild: DSC06688 flickr photo by Bryce Edwards shared under a Creative Commons (BY) license )

So bevorzugten die Verantwortlichen geschaffene Tatsachen, die die meisten Skeptiker überzeugten. Und die Verkehrswende kam mit Siebenmeilenstiefeln nach Ljubljana. Die Liste von Bürgermeister Zoran Jankovic regiert souverän mit absoluter Mehrheit im Stadtparlament. Die unter seiner Ägide erzielten Erfolge sind nicht von der Hand zu weisen: Während 2003 noch 58 Prozent aller Wege in Ljubljana mit dem Auto zurückgelegt wurden, waren sind es 2013 nur mehr 42 Prozent. Der Anteil der zu Fuß zurückgelegten Strecken vergrößerte sich von 19 auf 35 Prozent.

Allerdings beschränken sich diese Fortschritte bislang weitgehend auf die Glanzseite der historisch gewachsenen Stadt. In den Wohnbezirken dümpelt das Bussystem noch vor sich hin, und viele Bewohner bevorzugen daher zur Fortbewegung das eigene Fahrzeug, weitgehend von Verbrennungsmotoren betrieben.

Dennoch honorierte die Europäische Kommission die Bemühungen der slowenischen Hauptstadt um nachhaltige Mobilität, aber auch schonende Landnutzung, Luftqualität, Lärm- und Müllvermeidung, Wasserreinhaltung, regenerative Energie, grünes Wachstum, Natur- und Artenvielfalt 2016: mit der Ernennung zur „Grünen Hauptstadt Europas“.

24.12. Wiesbaden: Jedem Anfang wohnt ein Zauber inne

Advent heißt übersetzt Ankunft. Es ist eine Zeit der Erwartung, verbunden mit der Hoffnung auf Erneuerung, Veränderung, eine bessere Zukunft. Hinter jedem Türchen unseres diesjährigen Adventskalenders verbargen sich bemerkenswerte Beispiele aus anderen Städten weltweit, aber auch Projekte hier vor Ort, wie sich Mobilität auch anders, menschengerechter, umweltfreundlicher, lebenswerter, gestalten lässt. Meist waren es in den vorgestellten Städten beherzte LokalpolitikerInnen und PlanerInnen, die einfach handelten und ihre Wohnorte grundlegend verwandelten. Kein Fall ist bekannt, wo sich eine nennenswerte Mehrheit hinterher über die Umgestaltung beklagte. Dem Modell einer “autogerechten” Stadt weinte niemand hinterher. Im Gegenteil: oft fordern Betroffene und vielerorts gerade Geschäftsleute, die neuen Ansätze noch konsequenter voranzutreiben, noch mehr autofreie Zonen auszuweiten, den Nahverkehr auszubauen, den Nahverkehr zu ver- und begünstigen, das innerstädtische Parken zu erschweren. All diese ganz unterschiedlichen Modelle können auch Ermutigung sein, dass man sich nicht, von Sachzwängen geleitet, mit dem Ist-Zustand auf Dauer abfinden muss, auch hier nicht, in unserer liebenswerten Heimatstadt.

Denn der Verkehr in Wiesbaden, und diese Einsicht eint Befürworter und Gegner der Straßenbahn gleichermaßen, bedarf eines grundlegenden Umbaus. Die einseitige Öffnung der einer anderen Epoche entstammenden Stadt für eine stetig wachsende Flut von Autos übersteigt das, was Wiesbadens Straßen leisten können, bereits seit Jahren. Die Folgen kennt jeder: Tagtäglicher Stau, endlose Parkplatzsuche und ein Kollaps des Stadtverkehrs schon bei kleinen Störungen.

Wer da ‘Augen zu und durch’ für eine Option hält, ist einer Illusion verfallen. Denn der zunehmende Verkehr ist keine Phase, die wir überstehen müssen; der sich schon von selbst irgendwie löst, wenn wir einfach nur noch ein wenig durchhalten.

„Die reinste Form des Wahnsinns ist es, alles beim Alten zu lassen und gleichzeitig zu hoffen, dass sich etwas ändert.“ 

Verkehr ist kein Schicksal, sondern das Produkt unserer Handlungen und Entscheidungen. Der Verkehr in Wiesbaden muss  neu organisiert werden. Das lässt sich nicht durch ein paar Pinselstriche hier und da gewährleisten, sondern bedarf einer strukturellen Neuordnung. 

Unabhängig davon, ob das per Straßenbahn (die wenig überraschend unser Favorit ist), per BRT, per U-Bahn oder sonstigen Verkehrsmitteln geschieht: Die Änderungen in Wiesbaden werden spürbar und vor allem deutliche Bauarbeiten nach sich ziehen.

Baustellen, verbunden mit Einschränkungen im Verkehr, mit Lärm und Emissionen, bringen immer negative Beeinträchtigungen für Anlieger, Besucher und Co mit sich. Und da ist es auch gleich, ob es sich um Straßenbahnbaustellen, grundsanierte Leitungsnetze, Brücken, Tunnel, Tiefgaragen oder Neubauten handelt. Wobei immer betont werden muss, dass im Falle des Straßenbahnprojekts keineswegs die ganze Stadt zur Großbaustelle wird, sondern jeweils einzelne Etappen für einen überschaubaren Zeitraum von einigen Monaten.  

Dennoch: Baustelle bleibt Baustelle. Und um Bauarbeiten, die einen Übergang in eine künftig verbesserte Situation zu überstehen, verdienen besonders betroffene Anwohner, Einzelhändler und Gewerbetreibende Unterstützung. Deshalb werfen wir noch einmal einen Blick über die Stadtgrenzen hinaus, auf der suche nach nachahmenswerten Modellen.

Auch Straßenbahngleise entstehen nicht über Nacht.
(Navvies Extending Bergen Light Rails flickr photo by aha42 | tehaha shared under a Creative Commons (BY-NC) license )

Best-Practice aus anderen Städten

Wiesbaden ist weder die erste noch die letzte Stadt in Deutschland, in der der örtliche Einzelhandel von Baumaßnahmen betroffen ist. Deshalb gibt es in fast allen Städten Beispiele für gelungene (oder eben nicht gelungene), baubegleitende Maßnahmen, die dafür sorgen, dass die Auswirkungen auf Anwohner, Einzelhändler, Gewerbetreibende und Kunden so gering wie möglich ausfallen.

Das beginnt bereits mit einer frühzeitigen Kommunikation des Zeitplans sowie der Einbindung der Betroffenen in die Planung. Auch die ständige Präsenz eines Ansprechpartners vor Ort, der sowohl für Anwohner als auch Besucher Fragen beantwortet, kleine Probleme sofort und vor Ort klärt und die großen Dollpunkte ‘nach oben’ kommuniziert, kann viele Konflikte schon im Vorfeld aus dem Weg räumen. So beispielsweise geschehen in Mainz bei der Sanierung der Straßenbahngleise am Mainzer Hauptbahnhof im Sommer 2019. Die Stadt München stellte den inhabergeführten Geschäften im sogenannten Ruffinihaus während der zweijährigen Sanierung des Gebäudes Ersatzflächen zur Verfügung. So konnten die Einzelhändler während der Bauarbeiten in zentral gelegene Ausstellungsflächen des Stadtmuseums umziehen.

Die Handelskammern dieser Republik haben vielfach bereits Best-Practice-Beispiele rund um das Thema Baustellenmarketing zusammengetragen – zu Einstieg verlinken wir hier einige Broschüren mit Dutzenden kleinen wie großen Maßnahmen, Ideen und Praxisbeispielen:

Zwei Städte wollen wir aber näher unter die Lupe nehmen: Ulm und Karlsruhe. Gerade weil besonders in Karlsruhe der Umfang der Bauarbeiten das Wiesbadener CityBahn-Bauvorhaben um ein Vielfaches übersteigen, lohnt sich ein Blick auf deren Ideen für eine allgemeinverträgliche Umsetzung.

Ulm: Gratis-ÖPNV an Samstagen

Ulm baut um: Unter dem Dach des “Masterplan citybahnhof ulm” werden mehrere Großbauprojekte in unmittelbarer Nachbarschaft koordiniert. Der Hauptbahnhof selbst bekommt ein neues Empfangsgebäude und eine Fußgängerunterführung, die nun auch das westlich des Bahnhofs gelegene Dichterviertel anschließt. 

Auf den Bahnhofsvorplatz wird die neue Straßenbahnlinie 2 verlegt, darunter entsteht ein neues Parkhaus, es entsteht ein neuer Busbahnhof, mehrere neue Gewerbe- und Einzelhandelsimmobilien in den “Sedelhöfen” und nicht zuletzt ein neues Gebäude, in dem die Stadt Ulm künftig ihre “zentralen Bürgerdienste” verkehrsgünstig konzentriert.

Über fünf Jahre lang sind der Ulmer Hauptbahnhof und seine Umgebung somit eine Großbaustelle – und das unter rollendem Rad. Denn sowohl Fernzüge, Busse, Straßenbahnen als auch der Straßenverkehr vor dem Hauptbahnhof, der Friedrich-Ebert-Straße, sollen, so gut es geht, weiter rollen.

Neben vielen bemerkenswerten Begleitmaßnahmen rund um diese Baustelle – von einer umfassenden Bürgerbeteiligung über Live-WebCams, Baustellenführungen und Infopoints hin zu einem “Kreativ Wettbewerb BAUEN” für Kinder und Jugendliche gibt es eine Maßnahme, die besondere Beachtung verdient: der kostenlosen Nahverkehr.

Die Umbaumaßnahmen des Projektes ‚citybahnhof ulm‘ auf einen Blick. (Bild: Stadt Ulm.)

Die Stadt Ulm befürchtete, dass langwierige Bauarbeiten sowohl Touristen als auch Einheimische aus der Innenstadt vertreiben und dadurch Einzelhandel und Gastronomie Einbußen bescheren könnten, zumal die Bauarbeiten auch den Parkraum einschränken.

Im Dezember 2018 beschloss der Ulmer Gemeinderat daher einstimmig: Nahverkehr innerhalb der Stadt gibt es an den Samstagen gratis. Zunächst auf neun Monate begrenzt, wurde diese Maßnahme wegen ihres Erfolgs vor wenigen Tagen bis Mitte 2022 verlängert.

„Die komplette Steigerung um zehn Prozent zeigt, dass wir mit einem attraktiven Angebot auf dem richtigen Weg sind. Dies ist ein toller Erfolg, mehr Leute zum Umstieg auf öffentliche Verkehrsmittel zu bewegen!“

Gunter Czisch, Bürgermeister der Stadt Ulm

Ulms Bürgermeister Gunter Czisch zeigt sich von der Idee überzeugt: An Samstagen seien nun 45% mehr Fahrgäste im ÖPNV unterwegs als zuvor. Aber auch unter der Woche stiegen die Fahrgastzahlen und führten so zu einem Gesamtzuwachs von zehn Prozent.

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Karlsruhe: Koordiniertes Marketing

Auch in Karlsruhe wird unter dem Titel Kombilösung Karlsruhe fleißig gebaut: Um die Leistungsfähigkeit des Karlsruher Straßenbahnnetzes weiter zu erhöhen, soll die Bahn auf einzelnen, innerstädtischen Abschnitten unter die Erde verlegt werden. So soll die Straßenbahn, die bislang durch die Fußgängerzone fährt, künftig unterirdisch verkehren. Hinzu kommt eine oberirdische Neubaustrecke auf der Kriegsstraße sowie ein unterirdischer Abzweig Richtung Süden. Insgesamt knapp dreieinhalb Kilometer Straßenbahntunnel sind dafür notwendig.

Der Stadtbahntunnel wird dabei in offener Bauweise gebaut. Das bedeutet: Die Straße wird aufgerissen, ein ca. 13 Meter tiefer Graben ausgehoben, die Stadtbahngleise und sonstige Leitungen reingebaut, der Tunnel per Deckel verschlossen und anschließend oben wieder gepflastert oder bepflanzt.

Die Baustelle der unterirdischen Haltestelle Marktplatz im November 2016. (Bild: Simon-Martin, Karlsruhe Baustelle Marktplatz-Nov 2016, CC BY-SA 4.0)

Was aufwendig klingt, ist auch aufwendig: Der Baubeginn war 2010, mit der Inbetriebnahme des Tunnels wird aktuell nicht vor 2021 gerechnet. Dass die Straßenbahnen oberirdisch weiterfahren, während der Tunnel gebaut wird, verkompliziert die Bauarbeiten. Im Rahmen der Entschädigungen, die Einzelhändlern bei Umsatzeinbußen durch erhebliche Baustellen in der Regel zustehen, wurden in Karlsruhe in den ersten acht Baujahren insgesamt 13 Millionen Euro ausgezahlt. 

Zusätzlich legte die Stadt einen Innenstadtfonds auf. Aus diesem können mit weiteren Projekten die anliegenden Einzelhändler gefördert werden – Veranstaltungen, Marketingmaßnahmen, Gewinnspiele und Co. Bereits im ersten Jahr wurden 29 Ideen mit jeweils mehreren tausend Euro aus diesen Mitteln. Dazu zählen beispielsweise Straßenfeste, Lichtinstallationen, großflächige Werbung für Geschäfte auf Fahrzeugen der Karlsruher Verkehrsbetriebe oder eine neue, gemeinsame Internetpräsenz der inhabergeführten Einzelhändler der betroffenen Straßenzüge.

Vorher

Nachher

Bild: Mit freundlicher Genehmigung von (c) Frederik Buchleitner

Die Bauarbeiten in der Karlsruher Innenstadt übertreffen die, die für die Wiesbadener CityBahn nötig sind, um ein Vielfaches – sowohl zeitlich als auch finanziell. Die Aushebung des Innenstadt-Tunnels ist viel mehr mit dem Bau einer U-Bahn vergleichbar. Deshalb ist Vorsicht geboten, die Auswirkungen dieser Baumaßnahmen auf Wiesbaden zu übertragen. Nichtsdestotrotz bieten die Ansätze rund um das Karlsruher Baustellenmarketing wertvolle Ideen.

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Ideen für Wiesbaden

Angeregt durch das Beispiel vieler anderer Städte muss auch Wiesbaden das Rad nicht neu erfinden. Gleichwohl gilt es, diejenigen Lösungen zu wählen, die auch (oder gerade) in unserer Stadt besonders gut greifen und die negativen Folgen von Bauarbeiten so weit wie möglich abfedern.

„Kommt her, trotz Baustelle“, laute die Botschaft, die alle mittragen müssten, so Haussmann. Vereinzelte Gewerbetreibende, die ihrer Verärgerung in lokalen Medien Luft machten, schadeten dagegen der gesamten wer Geschäftsumgebung, weil sie Kunden abschreckten.

Kommunikationsforscher André Haussmann in: Allgemeine Zeitung, 13. Dezember 2017

Wer könnte diese Ideen besser entwickeln und beurteilen, als die betroffenen Anwohner, Einzelhändler und Gewerbetreibende selbst; unterstützt von IHK und städtischen Behörden? Nichtsdestotrotz wollen wir folgend unsere einige Ideen und Anforderungen umreißen. Aber Anregungen und Wünsche seien uns im Zeichen der Weihnachtszeit erlaubt:

  • eine klare Kommunikation der einzelnen Bauphasen, des Zeitplans, der Art der Bauarbeiten und der angedachten Verkehrsführung sowohl für den Anwohner-/Lieferverkehr als auch für Besucher und Transit ist unumgänglich.
  • die Einbeziehung von Anwohnern sowie ortsansässigen Einzelhändlern und Gewerbetreibenden in die Entwicklung der Marketingmaßnahmen und der Verkehrsführung.
  • die ständige Präsenz eines Ombudsmanns/Baustellenmanagers an einem Infopoint vor Ort.
  • die Auflage eines Innenstadtfonds (nach Karlsruher Modell) zur Förderung von Einzelhandels- und Stadtteilinitiativen während der Bauarbeiten.
  • die Zurverfügungstellung von Werbeflächen für besonders betroffene Einzelhändler, beispielsweise an den Außenflächen der ESWE-Busse.
  • die Bereitstellung alternativen Einzelhandelsflächen für besonders betroffene Einzelhändler
  • die Preisreduktion bzw. Freigabe des öffentlichen Nahverkehrs in den von Bauarbeiten besonders betroffenen Stadtteilen
  • die Einrichtung von hochfrequenten Shuttles zwischen Umsteigepunkten und Parkplätzen zur Entlastung der von Bauarbeiten beeinträchtigten Hauptverkehrsstraßen. 
  • die Prüfung der temporären Einrichtung von Busspuren parallel zu den Baustellen, um die Leistungsfähigkeit und Geschwindigkeit des Busverkehrs und der Shuttles zu gewährleisten.

Die Liste erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Dir fehlt ein wesentlicher Punkt? Dann ab in die Kommentare damit!

21.12.: Ein Stadtviertel verbannt seine Fahrzeuge

Das Rheingauviertel, Hollerborn ist ein Stadtteil der Landeshauptstadt Wiesbaden. Als Wohnviertel im Südwesten der Stadt entstand es weitgehend zwischen den Jahren 1902 und 1908 im Stil des Historismus. Glücklicherweise wurden im 2. Weltkrieg nur wenige Häuser zerstört.

In einer früheren Version des Artikels hat sich ein Rechenfehler eingeschlichen und das RGV wurde mit einem Schnitt von 1,63 Autos pro Haushalt angegeben. 7.302 Fahrzeuge auf 11.898 Haushalte ergeben aber einen Wert von 0,61 Autos pro Haushalt.

Das Rheingauviertel hat 22.335 Einwohner, die in 11.898 Haushalten leben1 Amt für Statistik und Stadtforschung, 2019) . 7.302 Fahrzeuge waren im Jahr 2015 im Stadtteil zugelassen 2Amt für Strategische Stadtsteuerung, Stadtforschung und Statistik . Jeder Haushalt des Viertels hat also im Durchschnitt 0,61 Fahrzeuge. 

Deshalb ist das Rheingauviertel vor allem auch dafür bekannt, dass es hier einen extremen Mangel an Parkplätzen gibt. Oder besser gesagt, die Anzahl der zugelassenen Fahrzeuge übersteigt den zur Verfügung stehenden Parkraum. Wer abends mit dem Auto wegfährt, reiht sich bei der Rückkehr ein in den immer wieder kreisenden Parkplatz-Such-Verkehr und landet oft entnervt im Europaviertel.

Aber einmal im Jahr nehmen sich die Rheingauviertler die Freiheit und verbannen die Blechkisten für ein ganzes Wochenende im Juni. Nachbarn, Freunde und Wiesbadener aus anderen Stadtteilen feierten in diesem Jahr zum fünften Mal das Rüdesheimer-Straßen-Fest. 

Die Rüdesheimer Straße an einem normalen Tag. (Bild: Bürger Pro CityBahn)

Die Idee wurde 2015 von einer Hausgemeinschaft in der Rüdesheimer Straße geboren. Seitdem wird das Fest jedes Jahr aufs Neue von der Bürgerinitiative „Rüdesheimer-Straßen-Fest“ organisiert. Es gibt viele, die immer wieder mitmachen wollen und eigene Programmideen haben. Musiker, Künstler, Kreative, Tanzschulen und pädagogische Institutionen, Cafés, Chöre und auch mancher Laden hat sich seitdem etwas einfallen lassen. 

Zehn Tage vor dem Termin werden die Bewohner durch Schilder informiert, dass sie ihre Fahrzeuge an zwei Tagen an anderer Stelle parken müssen. Autofrei ist aber nicht die ganze Rüdesheimer Straße, sondern nur der Block zwischen Johannisberger Straße und Rauenthaler Straße. 

Nach dem Fest, vor der Freigabe wird erst richtig sichtbar, wie breit die Straße eigentlich ist. (Bild: Bürger Pro CityBahn)

Seit zwei Jahren findet zusätzlich sonntags das große Nachbarschaftsfrühstück „Mitte uff de Gass“ statt. Jeder bringt etwas von Zuhause mit und teilt mit den anderen. Die Kinder malen auf der Straße, man lernt endlich mal seine Nachbarn kennen. Und man spürt, so könnte es sein, wenn man sich die Straße zurückerobert.

Die gute Nachricht ist, dass auch im nächsten Jahr wieder ein Straßenfest stattfinden wird. Der Termin steht schon fest: 20. bis 21. Juni 2020.

Quellen

Quellen
1 Amt für Statistik und Stadtforschung, 2019)
2 Amt für Strategische Stadtsteuerung, Stadtforschung und Statistik

20.12. – Kassel: Die Gebrüder Grimm würden Straßenbahn fahren

Ein Gastbeitrag von Felix Möller,
Vorsitzender Partei der Humanisten Hessen

Als jemand, der in Kassel aufgewachsen ist – also in der Region, wo die Gebrüder Grimm einst die Märchen für ihre weltberühmte Sammlung aufgezeichnet haben -, kenne ich mich etwas mit den fiktiven und unterhaltsamen Geschichten aus. Märchen sind etwas Schönes, um Menschen zum Träumen anzuregen.

Während meines vierjährigen Lebensabschnitts in Wiesbaden habe ich allerlei Märchen zu hören bekommen: Straßenbahnen wären laut, ineffizient, unökologisch, bräuchten zu viel Platz, würden die Steigung nicht schaffen und würden Häuser zum Einstürzen bringen. Oft habe ich geschmunzelt über die Phantasie der Menschen, die solche Dinge erzählen.

Wenn es um politische Entscheidungen geht, ist es jedoch wichtig, Fiktion und Realität unterscheiden zu können. Die Realität der Straßenbahn in Kassel, die seit über 100 Jahren fährt, und die ich als Kind und Jugendlicher alltäglich erlebt habe, ist eine andere als diejenige, die in einem hitzigen Diskurs in Wiesbaden mitunter beschrieben wird.

Die RegioTram im Kasseler Hauptbahnhof. (Bild: Kassel RegioTram flickr photo by Albert Koch shared under a Creative Commons (BY-ND) license )

Als ich noch klein war, fuhren in Kassel noch Wagen mit Holzpaneelen und Treppchen, die man hoch steigen musste, um in den Wagen zu gelangen. Heute fahren moderne, barrierefreie Wagen, in die Kinderwagen, Rollstühle und Fahrräder bequem reingerollt werden können. Eine Fahrt mit der Straßenbahn empfinde ich als bequemer als mit dem Bus, da es weniger schaukelt.

Wenn die Straßenbahn voll ist, findet man eher noch Platz zum Stehen, denn der Gang ist weitgehend ebenerdig und da die Türen nicht wie im Bus nach innen öffnen, kann man auch dort stehen, solange man nicht die Laserschranke berührt. Die Straßenbahn empfinde ich auch als relativ leise. Man hört nur ein gleichmäßiges Rauschen. Sie fährt in der Regel im 4 -10-Minuten-Takt. Wer in letzter Minute rein springt, kann auch noch problemlos in der Bahn am Automaten eine Karte kaufen. 

In Kassel sind nicht nur die Gleise begrünt – sondern auch die Masten. (Bild: Kassel flickr photo by compujeramey shared under a Creative Commons (BY) license )

Seit ich zurückdenken kann, erinnere ich mich an keinerlei Beschwerden über die Straßenbahn. Die Straßenbahn war und ist ein praktisches und bequemes Verkehrsmittel, das jeder gerne nutzt. Wenn die Gebrüder Grimm heute noch im Torhaus des Wilhelmshöher Tors wohnen würden, könnten sie am Rathaus in die Linie 5 steigen, ohne Umstieg bis Baunatal fahren und sich dort mit Dorothea Viehmann treffen.

Alle vermeintlichen Problempunkte der in Wiesbaden geplanten Stadtbahn, die ich bisher gehört habe, sind in Kassel längst gelöst. Die Straßenbahn teilt sich über weite Abschnitte die Straße mit den Autos. Auf anderen Abschnitten hat sie ihr eigenes Gleisbett, manchmal auch einfach als Rasenfläche. Das reduziert die Flächenversiegelung, was eine Busspur nicht leisten kann. Sie teilt sich auch die Fuldabrücke mit dem Straßenverkehr. Die Reibungsgeräusche der Straßenbahn sind nichts im Vergleich zu einem hart anfahrenden Verbrennungsmotor oder dem Quietschen von Reifen, was auf den großen Straßen Wiesbadens regelmäßig zu hören ist.

Die RegioTram in der Innenstadt: Shopping und Queren? Kein Problem. An dem Fahrzeug erkennnt man deutlich die Taillierung – der Wagenkasten ist eigentlich 2,65 Meter breit. Um aber an die Bahnsteige der ’normalen‘ Kasseler Straßenbahn (Breite: 2.40 Meter) zu passen, verjüngen sich die Fahrzeuge nach unten. (Bild: RegioTram Kassel flickr photo by kaffeeeinstein shared under a Creative Commons (BY-SA) license )

Vor nicht allzu langer Zeit hat man die Möglichkeiten des Straßenbahnsystems in Kassel noch weiter gesteigert und mit der Regiotram eine Straßenbahn entwickelt, die auf Straßenbahnschienen und Eisenbahnschienen fahren kann. Am Hauptbahnhof kommt sie auf Eisenbahnschienen an, taucht dann unter dem Hauptbahnhof durch und fährt ganz einfach auf den Straßenbahnschienen in der Innenstadt weiter. Die Leute aus den umliegenden Dörfern und Kleinstädten können somit, ohne einen PKW bewegen zu müssen, in die Stadt fahren, in der Königsstraße aussteigen und dort einkaufen gehen. Das hat die umliegenden Dörfer zum Teil neu belebt und eröffnet neue Chancen für den Einzelhandel, der es in Zeiten von Amazon und Co. schwer hat.

Ähnlich wie die Regiotram könnte die Straßenbahn in Wiesbaden über die bereits vorhandene Trasse der Aartalbahn eine direkte Schienenverbindung von Bad Schwalbach bis in die Wiesbadener Innenstadt herstellen. Das würde auch die überlasteten Pendlerstrecken über den Taunuskamm entlasten.

Die RegioTram in der Kasseler Innenstadt. (Bild: Kassel Wilhelmsstraße flickr photo by UrbanManager shared under a Creative Commons (BY-NC-ND) license )

Unsere Städte verändern sich. Immer mehr Menschen ziehen in die Stadt und konzentrieren sich auf begrenztem Raum. Der Individualverkehr stößt jetzt schon an seine Grenzen, was Staus, Flächenverbrauch sowie Abgas- und Lärmbelastung angeht. Tendenz steigend. Wir brauchen technisch neue Lösungen, um dieser Probleme Herr zu werden. Andernfalls werden die Veränderungen uns beherrschen. Die Straßenbahn ist ein bewährtes Mittel, um große Mengen an Passagieren umweltfreundlich im städtischen Bereich zu transportieren. Nicht nur in hessischen Städten ist sie eine Erfolgsgeschichte. Auf der ganzen Welt entdecken Städte Straßenbahnsysteme als sinnvolle Lösung für zunehmende Verkehrs- und Klimaprobleme. Studien zeigen immer wieder, dass es die Menschen in die Nähe von Straßenbahnhaltestellen zieht. Dortige Grundstücke zählen zu den begehrtesten. 

Doch Veränderungen kosten Mut. Oft überwiegt Angst, etwas Vorhandenes zu verlieren, den Mut, Neues zu wagen. Insofern wünsche ich den Wiesbadenern für das kommende Jahr Mut zur Veränderung. Ich würde mich sehr freuen, wenn die Wiesbadener und Mainzer Straßenbahn eines Tages bis in meinen Wohnort Hochheim fährt.

17.12.: Wiesbaden – zu Fuß auf der Wellritzstraße

Es gibt einige Versuchsprojekte, bei denen Straßen ”vom Auto befreit” und in Fußgängerzonen umgewandelt wurden. Beispiele finden sich u.a. in Hamburg, Barcelona oder Madrid. Diesmal bleiben wir aber in Wiesbaden, um uns ein Versuchsprojekt anzusehen: die Wellritzstraße im Westend. Dort wurde heute vor genau 8 Monaten der Abschnitt zwischen Helenenstraße und Hellmundstraße für ein Jahr testweise zur Fußgängerzone ungewandelt.

So kam’s zur Fußgängerzone

Der Ortsbeirat (OBR) Westend/Bleichstraße hat bereits am 6. Juli 2016 den Beschluss gefasst, die Wellritzstraße zwischen Schwalbacher Straße und Helenenstraße versuchsweise für ein Jahr zu einer Fußgängerzone zu machen.1Tagesordnungspunkt 4 der öffentlichen Sitzung des Ortsbeirats des Ortsbezirkes Wiesbaden Westend/Bleichstraße am 6. Juli 2016 (Vorlage Nr. 16-O-02-0026, Az.: 02/230512/S): … Continue reading In Zusammenarbeit mit dem OBR wurde dann das Versuchsprojekt auf den heutigen Abschnitt zwischen Helenenstraße und Hellmundstraße festgelegt und am 8. November 2018 von der Stadtverordnetenversammlung angenommen.

Dem eng bebauten inneren Westend bekommt es gut, wenn es nicht so viel mit Autos belastet ist. Eine vom Durchgangsverkehr befreite Wellritzstraße kann für Anwohner und Gewerbetreibende von großem Vorteil sein. […] Die Aufenthaltsqualität der Wellritzstraße könnte auf diese Weise deutlich gesteigert werden.

Begründung des OBR Westend/Bleichstraße für das Versuchsprojekt Fußgängerzone Wellritzstraße 2TOP 4, OBR Westend/Bleichstraße, 6. Juli 2016 (Vorlage Nr. 16-O-02-0026, Az.: 02/230512/S): https://piwi.wiesbaden.de/dokument/2/1993451

Ob dem auch so gekommen ist, ist immer wieder Gegenstand von Interviews und Berichten, z.B. in ”Mensch Westend” oder im ”Merkurist”.

Blau: Aktuelle Fußgängerzone in der Wellritzstraße
Grün: Verlängerung der Fußgängerzone während der Eröffnung der Kulturtage Westend

Meinungen

Vor dem Versuch…

Bereits vor dem Versuch waren die Leute einer Fußgängerzone zugeneigt. Sie betonen die potentiellen Vorteile, nämlich dass die Wellritzstraße dadurch belebt werden kann, sodass dann mehr Menschen in die Restaurants und Geschäfte kommen. Es wird aber auch angemerkt, dass die trennende Wirkung der Schwalbacher Straße überwunden werden müsste, um eine Verbindung zur Fußgängerzone am Michelsberg zu schaffen. Nicht zuletzt bestanden auch Sorgen um die Parkplatzsituation, für Anwohnende und Gewerbetreibende.

Für uns als Restaurant wäre eine Fußgängerzone sehr gut. Das würde die Attraktivität steigern.

Selahattin Günay, Günay’s Fisch3Wellritzstraße als Fußgängerzone: Das halten die Geschäftsleute von der Idee: https://www.mensch-westend.de/2017/06/20/wellritzstrasse-als-fussgaengerzone-halten-die-geschaeftsleute-von-der-idee/ … Continue reading

… und jetzt

Die Haltung zur Fußgängerzone hat sich mit dem Start des Projekts in einiger Hinsicht geändert. Der Wunsch nach einer Verlängerung zur Schwalbacher Straße hin ist weiterhin vorhanden. Die Frage der Autos — früher Alltag, mittlerweile als störend empfunden –, die das Durchfahrtsverbot ignorierten, ist aber weiterhin das heiße Eisen. Es gibt Beschwerden von Anwohnenden und Geschäftstreibenden, dass es geschäftsschädigend sei und mitunter gefährlich werde, wenn Autofahrende das Durchfahrtsverbot missachten.

Wie ist der aktuelle Stand?

Nach Beschwerden über die trotz Fußgängerzone durchfahrenden Autos hat der OBR Westend/Bleichstraße beschlossen, dass eine bewegliche Schranke in der Einfahrt zur Fußgängerzone zur Hellmundstraße hin installiert werden soll. Diese wurde Anfang Oktober eingerichtet.4Der gesamte Vorgang zur Schrankenerrichtung in der Wellritzstraße (Antrag 19-O-02-0034): https://piwi.wiesbaden.de/antrag/detail/2315062

Die Wellritzstraße von der Hellmundstraße aus mit neuer Schrank, an einem Samstagmorgen. (© Bürger Pro Citybahn)

Zwischenfazit des Ortsbeirats Westend/Bleichstraße

Am 27. November hat u.a. Verkehrsdezernent Andreas Kowol im OBR Westend/Bleichstraße ein Zwischenfazit zum Pilotprojekt Fußgängerzone Wellritzstraße gezogen, das insgesamt positiv aus. Neben den größtenteils zufriedenen Gastronom*innen wurde auch hervorgehoben, dass die Verkehrsbelastigung in der Wellritzstraße insgesamt zurückgegangen ist — schließlich taugt sie ja nicht mehr als Durchgangsstraße parallel zur Emser Straße. In gesammelten Reaktionen wurde auch wieder die Verbindung zur Innenstadt angesprochen, z.B. während des Oster- oder des Herbstmarkts.

Wie geht es weiter?

Diese Frage teilt sich in mehrere Teile auf: bleibt die jetzige Fußgängerzone so erhalten? Und wenn ja, wird sie erweitert? Zur ersten Frage scheint die Meinung der Gastronom*innen deutlich hin zu einem Ja zur Fußgängerzone zu gehen. Eine Erwartung ist auch denkbar, schließlich wurde das auch schon einmal im Rahmen der Eröffnung der Kulturtage ausprobiert (siehe Karte oben).

Nach der Evaluation der Testphase steht dann die politische Entscheidung von Ortsbeirat und Stadtverordnetenversammlung. Wenn die Fußgängerzone in der Wellritzstraße bleibt, wären dann weitere bauliche Maßnahmen dort denkbar und sinnvoll. Z.B. könnten die Bürgersteige entfernt, feste Sitzmöbel eingebaut oder größere Blumenkübel (wie auf der Wilhelmstraße) aufgestellt werden.

Exkurs: Das passiert gerade anderswo im Westend

Neben der Fußgängerzone in der Wellritzstraße passiert einiges im Westend hin zu einer Neuausrichtung zugunsten des Umweltverbundes. Hier eine kleine Auflistung:

  • Die Einrichtung der Umweltspur auf dem Bismarckring in beide Richtungen,
  • die Einrichtung einer Fahrradspur in der Bleichstraße (unter Wegfall von Parkplätzen vor der Wiesbaden Business School),
  • der Umbau der Kreuzung Bismarckring/Wellritzstraße mit Einrichtungen für den Radverkehr, und
  • der Bau zahlreicher neuer Fahrradstellplätze bzw. die Neubeantragung solcher durch den OBR.

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Quellen

Quellen
1 Tagesordnungspunkt 4 der öffentlichen Sitzung des Ortsbeirats des Ortsbezirkes Wiesbaden Westend/Bleichstraße am 6. Juli 2016 (Vorlage Nr. 16-O-02-0026, Az.: 02/230512/S): https://piwi.wiesbaden.de/dokument/2/1993451
2 TOP 4, OBR Westend/Bleichstraße, 6. Juli 2016 (Vorlage Nr. 16-O-02-0026, Az.: 02/230512/S): https://piwi.wiesbaden.de/dokument/2/1993451
3 Wellritzstraße als Fußgängerzone: Das halten die Geschäftsleute von der Idee: https://www.mensch-westend.de/2017/06/20/wellritzstrasse-als-fussgaengerzone-halten-die-geschaeftsleute-von-der-idee/ (vom 20. Juni 2017)
4 Der gesamte Vorgang zur Schrankenerrichtung in der Wellritzstraße (Antrag 19-O-02-0034): https://piwi.wiesbaden.de/antrag/detail/2315062

13.12. Frankfurt: Lastenrad einfach leihen

Viele Wege in der Stadt sind schneller mit dem Fahrrad, zu Fuß oder mit dem ÖPNV zurückgelegt. „Eigentlich brauche ich mein Auto nur für den Wochenendeinkauf oder wenn ich Getränke kaufen will“, sagt so mancher Stadtbewohner. Doch muss dafür ein Auto die ganze Woche rumstehen? Gäbe es nicht Alternativen um kleine Transporte auch ohne Auto abzuwickeln? Diese Fragen stellten vor drei Jahren einige Frankfurter. Mit dem Lastenfahrrad, das es heute in vielen Ausführungen gibt, war schnell ein Transportmittel gefunden. Doch Lastenräder sind teuer und werden meist nur gelegentlich gebraucht. Praktischer als der eigene Besitz wäre doch eine Leihmöglichkeit – am besten kostenlos. 

Die Idee eines nichtkommerziellen Lastenradverleihs war geboren. Die Regionalgruppe Rhein-Main des Verkehrsclubs Deutschland (VCD), der sich bundesweit für eine umwelt- und sozialverträgliche Gestaltung des Verkehrs einsetzt, reichte die Idee 2017 beim „Ideenwettbewerb Klimaschutz“ der Stadt Frankfurt am Main ein. Mit Erfolg, der Vorschlag wurde prämiert. Mit dem Preisgeld war das Startkapital und gleichzeitig auch die Verpflichtung zur Realisierung des Lastenrad-Verleihs da. 

Buchungsplattform und Partner organisieren Verleih

Mit dem Kauf der Lastenräder alleine war es aber nicht getan. Auch der Verleih musste organisiert werden. Mit Unterstützung des „Forum Freie Lastenräder“ wurde die Online-Buchungsplattform main-lastenrad.de geschaffen. Zudem wurden Partner für die Ausgabe der Räder an gut erreichbaren Standorten gesucht. Als ideale Orte erwiesen sich dabei Einzelhändler sowie Filialen von Lebensmittelketten wie Alnatura, Tegut oder Rewe. Diese übernahmen die Aufgabe kostenlos und profitieren dafür vom Lastenradangebot als zusätzlichen Service für ihre Kunden. 

Lastenrad
In die Ladefläche des Lastenrad Babboe Big passt fast soviel rein wie in manchen Kofferraum (Foto. Main-Lastenrad)

Im Juni 2018 startete das Projekt „Main-Lastenrad“ in Frankfurt mit drei Lastenrädern. 

Main-Lastenrad ist ein ehrenamtliches Projekt und verfolgt keine kommerziellen Zwecke. Es ermöglicht das kostenlose Ausleihen von Lastenrädern für alle, steht für die Idee der gemeinsamen Nutzung und ermöglicht urbane Mobilität, klimafreundlich, ohne Auto.

Als Nutzer registriert man sich auf der Online-Plattform und kann dann ein Lastenrad zum Wunschtermin reservieren. Damit jedes Rad möglichst vielen Leuten zugutekommt und nicht unnütz herumsteht, kann es nur für maximal zwei Tage am Stück entliehen werden. Das Leihen ist kostenlos, um Wartung und Reparaturen zu finanzieren sind aber Spenden erwünscht. 

Auslastung der Räder liegt bei über 80%

Mittlerweile ist die Zahl der Lastenräder auf zehn gewachsen. Über Crowdfunding sammelte eine Gruppe Lastenrad-Begeisterter Geld für drei weitere Lastenräder und auch Unternehmen konnten als Unterstützer gewonnen werden.

Die Räder werden gut angenommen. Von Frühling bis Herbst werden die Räder fast täglich genutzt. Die Auslastung liegt bei über 80 %. Nur im Winter ist die Nachfrage geringer.  

07.12. Heilbronn: Aus der Region direkt auf den Weihnachtsmarkt

Mit der Stadtbahn aus dem Umland direkt auf den Weihnachtsmarkt. In Baden-Württembergs siebtgrößter Stadt Heilbronn (125.960 Einwohner im Jahr 2018) ist das Alltag. Drei Stadtbahnlinien verbinden den Marktplatz vor dem Rathaus umsteigefrei mit den benachbarten Städten Neckarsulm, Bad Friedrichshall bis nach Sinsheim und Mosbach. Halbstündlich gibt es direkte Stadtbahnzüge nach Karlsruhe – jeder zweite davon lässt als Eilzug Zwischenhalte weg um die Fahrzeit zu reduzieren. Aus Karlsruhe kommt auch die Idee mit Bahnen vom Eisenbahnnetz auf das Straßenbahnnetz zu wechseln, um Fahrgästen zeitraubendes Umsteigen zu ersparen. Als absehbar war, dass Karlsruher Stadtbahnwagen auch Heilbronn erreichen, ergriff die Stadt Heilbronn die Chance damit auch die Verbindung in ihrer Region zu verbessern. Bereits drei Jahre nach dem Anschluss des Heilbronner Hauptbahnhofs an das Karlsruher Stadtbahnnetz konnten die Innenstadtverbindung 2001 eröffnet werden. Mit dem Bau der Straßenbahnstrecke wurde auch der Stadtraum aufgewertet. Die heruntergekommene Bahnhofsstraße erhielt ein neues Aussehen und die Kaiserstraße wurde zu einer Fußgängerzone mit ÖPNV-Spur. Jetzt haben die Stadtbahnzüge, die von außen wie Straßenbahnen aussehen aber auch die Technik für den Eisenbahnbetrieb beinhalten, ihren Halt auf dem Bahnhofsvorplatz und fahren von der Bahnhofstraße direkt in die Innenstadt. 

Illustration Fußgängerzone
Erst 1995 wurde die Kaiserstraße in Heilbronn zur Fußgängerzone umgewandelt. Bei der Umgestaltung wurden gleich die Gleise mitgebaut. Heute bringen Stadtbahn und Busse die Kunden direkt zum Einkaufen (Foto: sk).

Nach Oberhausen und Saarbrücken ist Heilbronn damit die dritte Stadt in Deutschland, die nach Stillegung der Straßenbahn in den 1950er Jahren, dieses Verkehrsmittel in moderner Form wieder einführte. In jüngerer Zeit nutzten auch die Städte Weil am Rhein sowie Kehl die Chance ihre Städte an bestehende benachbarte Straßenbahnnetze jenseits der Landesgrenze anzuschließen.

An den Adventsamstagen ohne Fahrkarte in die Stadt

Um den Umstieg auf den ÖPNV leichter zu machen, können an den vier Adventsamstagen sämtliche Verkehrsmittel – also Bus, Eisenbahn und Stadtbahn – innerhalb von Stadt und Landkreis Heilbronn sowie des Hohenlohekreises unentgeltlich genutzt werden. Die Kosten für diese Aktion belaufen sich auf 160.000 Euro1https://www.h3nv.de/aktuelles/detail/news/freie-fahrt-an-den-adventssamstagen.html

Käthchen von Heilbronn
Das Käthchen von Heilbronn aus Heinrich von Kleists Drama ist das Maskottchen des Heilbronner Weihnachtsmarkts. Im Hintergrund ist die Kilianskirche zu sehen (Foto: sk)

Potentiale für die Zukunft

Die Stadtbahnstrecke durch Heilbronns Innenstadt hat noch Potential weitere Linien aufzunehmen. So wurde 2018 im Masterplan nachhaltige Mobilität die Reaktivierung der Ende der 1980er Jahre stillgelegten Bahntrasse von Lauffen in die Region Zabergäu empfohlen. So könnte die 16.000 Einwohner zählende Stadt Brackenheim wieder an das Schienennetz angebunden werden. Leider scheiterte dieses seit 2006 diskutierte Vorhaben bisher an der Finanzierung. Eine weitere wichtige Maßnahme, die der Masterplan vorschlägt, ist eine Ampelsteuerung die Busse und Stadtbahnen an Ampeln eine grüne Welle gibt. Auch die Bedingungen für Radfahrer sollen verbessert werden.

Fahrradzähler
In Heilbronn wurden 2015 10% der Wege mit dem Fahrrad zurückgelegt. Auf vielen Wegen sind mehr Radfahrer unterwegs als man denkt. Ein Fahrradzähler macht das deutlich. Selbst an einem Wintertag waren hier noch über Tausend Radfahrer unterwegs (Foto: sk)

07.12. Luxemburg: In einem Jahr zehn Mal um die Welt

Die neue Straßenbahnstrecke durch Luxemburg, Hauptstadt des gleichnamigen Großherzogtums, hat ihr nächstes Etappenziel erreicht. Seit dem 13. Dezember 2020 fährt die Straßenbahn jetzt zum Hauptbahnhof und damit direkt ins Stadtzentrum.1https://www.urban-transport-magazine.com/%EF%BB%BFluxemburg-die-tram-erreicht-den-hauptbahnhof/

Weitere Verlängerung im Süden bis zum Neubaugebiet Cloche d’Or und im Nordwesten bis zum Flughafen sind in Vorbereitung. Im Jahr 2023 soll dann die Strecke mit einer Gesamtlänge von 17 Kilometern fertig sein. Das „Luxtram“ genannte Projekt zeigt gut, wie eine Straßenbahnstrecke bereits vom ersten Bauabschnitt an Nutzen bringen kann.

Schon der erste Abschnitt, am 10. Dezember 2017 eröffnet, verbesserte in Kombination mit dem neue Bahnhaltepunkt Pfaffenthal-Kirchberg und einer doppelten Standseilbahn die Erschließung eines großen Gewerbegebiets am Kirchberg. Neben dem Messegelände Luxexpo haben hier das Europaparlament, die Universität und zahlreiche Unternehmen der Finanzbranche ihren Sitz. Weitere Firmen werden noch folgen. Bis 2030 rechnet die Stadt mit einer Verdoppelung der Pendlerzahlen zum Kirchberg auf insgesamt 60.000.2https://de.wikipedia.org/wiki/Stater_Tram Um in den Stoßzeiten des Berufsverkehrs genügend Kapazität zu haben, waren daher leistungsfähige Verkehrsmittel gefragt. 

In 1 Minute 39 Meter hochgefahren

Standseilbahn
Zwei parallel angeordnete automatische Standseilbahnen verbinden die Bahnstation Pfaffenthal mit dem höher gelegenen Kirchberg. Zur Beschleunigung der Abwicklung sind Ein- und Ausstiegsseite getrennt (Foto: sk)

Die vollautomatische Standseilbahn, die den Bahnhalt Pfaffenthal mit der neuen Straßenbahnhaltestelle verbindet, ist daher gleich als Doppelanlage ausgeführt. Sind die Kabinen der einen Anlage unterwegs, kann in der anderen Anlage eingestiegen werden. Die Wartezeit ist auf diese Weise minimal. Zudem ist auch bei Ausfall einer Anlage der Betrieb gewährleistet. Dank geräumiger Kabinen ist die Beförderung von Rollstuhlnutzern, Kinderwagen und Fahrrädern kein Problem. In einer Minute Fahrzeit sind 39 Meter Höhenunterschied überwunden und die Bus- und Straßenbahnhaltestelle am Brückenkopf der Pont Grand-Duchesse Charlotte erreicht. Betreiber der Standseilbahn, die kostenlos genutzt werden kann, ist die luxemburgische Staatsbahn CFL. 

Eröffnung Seilbahn
Die Gäste der Eröffnung der Standseilbahn am 10. Dezember 2017 ließen sich von Kälte und Schneefall nicht die Laune verderben (Foto: GilPe unter Lizenz CC BY-SA 3.0)

Täglich nutzen 23.500 Fahrgäste die Straßenbahn

Der gleichzeitig mit der Standseilbahn eröffnete erste Bauabschnitt der Straßenbahn führt von der Bahnstation zum Messegelände mit Haltstellen an der Philharmonie, dem Europarlament und der Universitätsbibliothek. Ein halbes Jahr später erfolgte bereits die Verlängerung zum Stäreplaz/Etoile und im Dezember 2020 zum Hauptbahnhof. Am Stadtrand sind Park+Ride-Anlagen vorgesehen, die den Umstieg in die Tram für Autofahrer aus dem Umland erleichtern sollen.

Straßenbahn am Kirchberg
Die neue Straßenbahnlinie erschließt zunächst den Kirchberg, wo sich das Messegelände, das Europäische Parlament, die Universität sowie zahlreiche Firmen der Finanzbranche angesiedelt haben. Die 45 Meter langen Straßenbahnen verkehren auf eigener begrünter Trasse. Parallel dazu verlaufen Fuß- und Radwege sowie die Autofahrbahnen. Das Bild entstand kurz nach Eröffnung am 03.01.2018 (Foto: sk)

Schon bevor die Strecke die innenstadt erreichte, befördert die Straßenbahn bereits täglich durchschnittlich 23.500 Fahrgäste. Insgesamt waren es im ersten Betriebsjahr 4,6 Millionen Fahrgäste 3http://www.lessentiel.lu/de/luxemburg/story/die-tram-ist-zehnmal-um-die-welt-gefahren-21600543 Besonders während der dreiwöchigen Schueberfouer, einem der größten Jahrmärkte Europas, konnte die Straßenbahn ihre Leistungsfähigkeit unter Beweis stellen. In der Zeit des Rummels nahmen 490.000 Menschen die Tram – an jedem der Wochenenden waren dies bis zu 40.000 Fahrgäste 4https://www.lok-report.de/news/europa/item/7020-luxemburg-ausgezeichnete-tram-auslastung-zur-schueberfouer.html Die tatsächlichen Fahrgastzahlen lagen damit weit über den Prognosen. Im ersten Jahr legten die Straßenbahnzüge eine Strecke von 405.000 Kilometer zurück – das entspricht 10 Erdumrundungen. Bei den Fahrgästen kommt die neue Straßenbahn gut an. Laut einer Umfrage würden 83 Prozent der Befragten die Tram ihren Angehörigen empfehlen. 

Innenraum Straßenbahn
Sehr modern präsentiert sich die Luxemburger Straßenbahn innen. Die Hartschalensitze sind aber nur etwas für Kurzstreckenfahrgäste (Foto: sk)

Platz für bis zu 420 Fahrgäste

Mit der alten Straßenbahn, die von 1875 bis 1964 in der Stadt verkehrte hat die neue Luxtram nicht viele Gemeinsamkeiten. Die 45 Meter langen Straßenbahnwagen bieten Raum für bis zu 420 Fahrgäste. Acht Doppeltüren auf jeder Seite ermöglichen einen bequemen stufenlosen Einstieg. Markierungen auf dem Bahnsteig zeigen Rollstuhlfahrern an wo die Tür mit Aufstellfläche zum Stehen kommt. Bei einer Taktfrequenz zwischen drei und sechs Minuten können 10.000 Fahrgäste pro Stunde und Fahrtrichtung befördert werden 5http://www.luxtram.lu/de/kapazitaet/. Dabei sehen die silber-schwarzen Züge mit bunten Glasscheiben an den Türen auch noch zeitlos elegant aus. 

Seit März 2020 kostenfreier Nahverkehr

Mit der neuen Straßenbahn rüstet sich Luxemburg für den Fahrgastzuwachs, der mit der Einführung des kostenfreien Nahverkehr im Land Luxemburg einhergeht. Durch Steuern finanziert ist die Fahrt in Zügen (nur in der 2.Klasse), Bussen und Straßenbahnen für jeden kostenlos. Damit hat das Fürstentum eine Weltpremiere hingelegt. Ziel der Maßnahme ist es den ÖPNV-Anteil zu steigern. Auch wenn der Start dieser Maßnahme in die Corona-Pandemie fiel, wird sie in Luxemburg positiv bewertet. Denn auch wenn wegen Corona die Auswirkungen auf die Fahrgastzahlen noch nicht ersichtlich sind, ist der ÖPNV sicher finanziert und braucht keine Coronahilfe. Es bleibt abzuwarten ob nach Corona genügend Autofahrer zum umsteigen bewegt werden können oder ob Fahrgastgewinne des ÖPNV in erster Linie zulasten des Fuß- und Radverkehrs gehen. Interessant wird auch sein, ob die Kapazität des ÖPNV dann für alle Fahrgäste ausreicht.

Auch in Hinblick auf das in vielen deutschen Städten diskutierte 365 Euro-Ticket wird es spannend, welche Erfahrungen der für die Fahrgäste kostenlose Nahverkehr in Luxemburg auch in Zeiten ohne pandemiebedingte Ausnahmen erbringt.

06.12. – Augsburg: Wenn der Schuh drückt

Wiesbaden ist eine grüne Stadt? Verglichen mit dem Thelottviertel in Augsburg ist sie eher eine Steppe. Augsburg hat schon in den Jahren 2013 und 2014 Wiesbaden vorgemacht, wie ein aktiver und erfolgreicher Dialog mit kritischen Bürgern aussehen kann.

Worum geht es beim Bürgerdialog GoWEST?

Beim Bürgerdialog in Augsburg ging es um die Führung der neuen Straßenbahnlinie (Linie 5) vom Westportal des Bahnhofs bis zur Bürgermeister-Ackermann-Straße – einer Ost-West-Achse durch die Stadt. Die Linie soll durch empfindliche Bereich im dicht bewohnten Thelott- und Rosenauviertel führen. Beide Viertel weisen einen wertvollen Baumbestand und empfindliche Grünräume entlang der Wertach auf.

Zusätzlich stehen im Thelottviertel, das zwischen 1905 und 1929 nach Plänen von Sebastian Buchegger als eine der ersten Gartenstädte Deutschlands erbaut wurde, viele Gebäude unter Denkmal- bzw. Ensembleschutz. Im Rosenauviertel liegen beiderseits einer Kastanienallee große Wohnhöfe, die in den 1920er Jahren von Thomas Wechs und Otto Holzer gebaut worden sind.

Das Augbsurger Thelottviertel (Bild: wikiuser:Monroe~commonswiki, Thelottviertel, CC BY-SA 3.0)

Warum Bürgerdialog?

Um eine hohe Akzeptanz in der Bevölkerung für die geplante Neubaustrecke zu erreichen, wurde dem Planfeststellungsverfahren ein Bürgerdialog vorangestellt.

Format und Ablauf des Bürgerdialogs GoWEST

Durch die Einbindung und aktive Mitwirkung von Anliegern der potenziell betroffenen Straßen in überschaubaren Gruppen sollte eine Auswahl aus fünf möglichen Streckenführungen getroffen werden. Es wurde mit gut vierzig Personen gearbeitet, die an drei Tischen arbeiteten oder gemeinsam im Plenum diskutierten.

Vertreter von Stadtverwaltung und Stadtwerken beantworteten Fragen und nahmen Prüfaufträge entgegen, deren Ergebnisse dann den Delegierten beim nächsten Plenum präsentiert wurden.

Große Pläne: Der Ausbau des Augburger Straßenbahnneztes (gelb). (Bild: Maximilian Dörrbecker (Chumwa), MDA Übersicht, CC BY-SA 2.5)

Durch die Aufteilung wurde eine offene Diskussion über die Vor- und Nachteile jeder Streckenvariante diskutiert, was zum Beispiel den Vorschlag einer geflügelten Variante der Trassenführung durch das Thelottviertel hervorbrachte, bei der die Hinstrecke eine andere durch andere Straßen führt als die Rückstrecke, da die gemeinsame Führung von Hin- und Rückstrecke durch die gleichen Straßen nicht dem kleinteiligen Aufbau des Gartenviertels entsprochen hätten.

Die Gruppen bestanden aus je vier Delegierten (Mieter und Eigentümer) aus sieben Straßenzügen, die sich bei der Auftaktveranstaltung melden konnten und anschließend per Los aus dem Interessentenkreis bestimmt wurden, plus Vertretern von Interessengruppen aus dem Stadtteil und Initiativen aus den Quartieren sowie je einem Vertreter der Stadtratsfraktionen.

Diese Varianten der Trasse entwickelten und diskutierten die Bürger im Workshop. (Quelle: Abschlusspräsentation der Workshops)

Für Wiesbaden interessante Ansätze

Gerade die Variante, Anwohner mit Interessenvertretern und Lokalpolitikern an einen Tisch zu setzen, wobei  der Einfluss der Parteien durch die Losauswahl der Anwohner und die geringe Zahl der Fraktionsrepräsentanten niedrig gehalten wurde, ist auch für Städte wie Wiesbaden interessant. Damit werden auch Bürger, die kein Vertrauen mehr in die Lokalpolitik setzen, einbezogen und lassen die Anwohner an der geplanten Strecke als gestaltender Bürger auftreten – und nicht als Objekt der Stadtplanung.

Quelle: Norbert Diener/Hartmut Topp: „GoWEST mit Tram 5 – Bürgerdialog im Projekt Augsburg city“ in: „Informationen zur Raumentwicklung, Heft 4.2016: Straßenbahnen und Stadtentwicklung“