19.12. Pontevedra: Kaum noch Autos – und der Einzelhandel freut sich

Und wieder war es auch hier die beherzte Initiative eines Politikers, die eine Stadt von Grund umgestaltet hat. Der Arzt Miguel Anxo Fernández Lores, seit 21 Jahren Rathauschef der 82.000-Einwohnerstadt Pontevedra in der autonomen Provinz Galicien im Nordwesten Spaniens, nennt sich selbst „Fußgänger Nr. 1“. Denn der Kandidat eines links-grün-galicisch-autonomen Bündnisses, das 1999 überraschend die konservative Dominanz im neoklassizistischen Rathaus durchbrach, hat maßgeblich dafür gesorgt, dass das Zentrum seiner Heimatstadt in eine Oase der Ruhe und der nicht-motorisierten Fortbewegung verwandelt ist. Pontevedra, traditionelle Wallfahrtsstätte für Pilger auf dem Jakobsweg, ist heute ein gern besuchter Vorzeigeort für Stadtergrünung.

Im gesamten Stadtgebiet kamen Mitte der Neunzigerjahre auf rund 70 000 Einwohner fast 50.000 Kraftfahrzeuge, der städtische Fuhrpark eingerechnet. Statistisch stand jedes Auto 95 Prozent der Zeit ungenutzt auf städtischem Grund oder im Stau. 70 Prozent aller Einkäufe im Stadtgebiet wurden per Auto erledigt. In der Innenstadt sorgten 14.000 Autos täglich für Stillstand, die Suche nach einem Parkplatz dauerte mitunter eine Viertelstunde. Die Luft war verpestet, ständig wurde gehupt. Es herrschte eine zunehmend nervöse bis aggressiv geladene Atmosphäre. Wer Wiesbaden kennt, kann sich die Situation damals gut ausmalen.

Eine Stadt für die Menschen. Wo in Pontevedra früher Autokolonnen die Luft verpesteten, befindet sich heute eine beliebte Flaniermeile. (Bild: Pontevedra flickr photo by elholgazan shared under a Creative Commons (BY-NC-ND) license )

Nach seinem Wahlsieg setzte Lores keine Planungsgremien ein, ließ keine Positionspapiere oder Prognosen ausarbeiten – er handelte einfach. Auf einen Schlag erklärte er die gesamte Altstadt mit ihren gotischen Kirchen und Renaissance-Häusern zur Fußgängerzone. Dieser Befreiungsschlag ging einher mit einer Umgestaltung der historischen Innenstadt. Sie ist seitdem nicht wiederzuerkennen. Wo sich vorher Stoßstange an Stoßstange reihte, lädt heute eine Bummelzone mit Straßencafés zum Verweilen ein. Es gibt dort weder Fahrbahnmarkierungen noch Unterschiede zwischen Bürgersteig, Fahrradweg und Autopiste. Verkehrszeichen und Ampeln sind gleich mit verbannt. Denn es gilt eine denkbar einfache Grundregel: Fußgänger haben immer Vorfahrt. Dann folgen Radfahrer. Erst danach kommen motorisierte Fahrzeuge zu ihrem Recht.

Die Ladenbesitzer, die anfangs gegen die Einrichtung der autofreien Zone protestiert hatten, beruhigten sich schnell: Entgegen den Befürchtungen stiegen ihre Umsätze – aus einem banalen Grund: Die zeitraubende Parkplatzsuche hatte potenzielle Kunden früher eher abgeschreckt als zum Konsumieren verlockt. Heute schlendern entspannte KäuferInnen zu Fuß an den Auslagen vorbei oder halten mit ihrem Fahrrad direkt vor dem Geschäft ihrer Wahl – und geben mehr Geld aus. Ein Nebeneffekt: Im Gegensatz zu den meisten anderen spanischen Städten wurde das Gros des Einzelhandels nicht von riesigen Supermärkten am Stadtrand aufgesogen.

Wir müssen jetzt draußen bleiben… Dank zahlreicher günstiger Parkplätze rund um die Innenstadt, fällt das Umsteigen auf umweltfreundliche Fortbewegung leicht. (Bild: 2764_Monbus flickr photo by antoniovera1 shared under a Creative Commons (BY-SA) license )

Und was ist mit den Menschen, die schwere und sperrige Dinge zu verladen, oder es eilig haben? Sie können einfahren, jedoch mit nicht mehr als zehn Stundenkilometern, und an einem der 1000 verbliebenen Parkplätze parken – allerdings nicht länger als 10 Minuten. Parkplätze sind Lade- aber keine Abstellzonen. Das ganze wird von Kameras überwacht und durch fernbediente Poller ergänzt.

Die Verbannung der Autos wurde auch deshalb akzeptiert, da gleichzeitig an den Durchgangsstraßen, die einen großen Bogen um das Zentrum machen, knapp 15 000 Parkplätze eingerichtet wurden. Zwei Drittel sind gratis. Für Autobesitzer, die im Zentrum arbeiten, sind eigene Plätze reserviert. Die anderen Parker kostet die Stunde einen Euro. Zudem verbinden kleine Shuttlebusse die Parkplätze gratis mit den wichtigsten Anlaufpunkten im Zentrum. Deren Dieselmotoren werden nun nach und nach durch Elektro-Antriebe ersetzt. Auch stehen Leihfahrräder zur Verfügung, die sich per App freischalten lassen. Selbst die Hinweistafeln richten sich an den Bedürfnissen der Fußgänger aus und geben fußläufige Entfernungen in Metern und Minuten an.

Jeder freiwerdende Fleck, der einst als Parkplatz diente, wird in Grünflächen und Parkanlagen verwandelt. (Bild: Pontevedra flickr photo by Iván PC shared under a Creative Commons (BY) license )

Das gesamte Stadtbild hat sich verändert: Jeder freie Flecken, auf dem früher Pendler parkten, wurde begrünt, in Sport- und Spielplätze umgewandelt, von Büschen und Bäumen umsäumt, die verbliebenen Autos der Anwohner in neue Tiefgaragen verbannt.

Das Ergebnis der Neubelebung kann sich sehen, aber auch erriechen lassen: Die Kohlendioxid-Emissionen im Zentrum sind um 70 Prozent zurückgegangen. Wurden früher pro Jahr drei bis vier Fußgänger von Autos überfahren-, so waren in den letzten Jahren im Zentrum keine Verkehrstoten mehr zu verzeichnen. Gerade Kinder können sich viel freier und unbefangener bewegen. Die Mamataxis bleiben in der Garage. Seit der Autoverkehr zur Randerscheinung wurde, haben die Eltern keine Angst mehr, ihre Kinder allein auf den Schulweg zu schicken. Die Stadtbewohner erledigen ohnehin die meisten Besorgungen zu Fuß. Ihrer Gesundheit und Fitness ist es sicher nicht abträglich

Pontevedra hat auf diese Weise erheblich an Attraktivität gewonnen: Die zuvor kontinuierlich sinkende Einwohnerzahl nimmt inzwischen stetig zu. Auch für andere Kommunen und Stadtplaner ist die galicische Stadt vom abschreckenden Beispiel zum Vorbild geworden. Doch wer heute die ergrünte Wallfahrtsstätte besucht, sollte darauf eingestellt sein, zu Fuß ins Zentrum pilgern zu müssen.

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15.12. – Avignon und die „Straßenbahn des Glücks“

Heute blicken wir in eine Stadt, die schon durch ihr Stadtbild Geschichte ausstrahlt. Eine hohe Stadtmauer umschließt den Stadtkern. Hier steht der Palast, in dem im 14. Jahrhundert der Papst residierte. Türme und Zinnen bestimmen die Silhouette der Altstadt. Die Rede ist von der südfranzösischen Stadt Avignon, am Zusammenfluss der Rhône und der Durance gelegen. Hier leben rund 93.000 Einwohner, davon rund 15.000 in der Altstadt. Nach Einwohnerzahlen steht Avignon damit auf Platz 46 in Frankreich. 

Straßenbahn Avignon Haltestelle
Reger Andrang herrscht am Eröffnungstag der neuen Straßenbahn an der Haltestelle Gare Centre (Foto: Bernhard Kußmagk)

Genau vor 2 Monaten am 19. Oktober 2019 schlug die Stadt ein neues Kapitel in Ihrer Geschichte auf. Mit einer ersten 5,2 Kilometer langen Linie wurde Avignon die 27. Stadt in Frankreich mit einer Straßenbahn. Noch ist sie damit der zweitkleinste Straßenbahnbetrieb in Frankreich (nach Aubagne). Eine zweite Linie soll aber in drei Jahren folgen, wenn Corona keinen Strich durch die Rechnung macht. Nicht nur für die Einwohner Avignions war die Eröffnung ein besonderer Tag. Auch die Sängerin Mireille Mathieu, 1946 in Avignon geboren aber mittlerweile mit Wohnsitz in Paris, war bei der Eröffnung dabei. Ihr Portrait ziert jetzt einen der 14 neuen Straßenbahnwagen, von denen jeder an eine für die Stadt bedeutende Persönlichkeit erinnert. Am Eröffnungstag freute sich die als „Spatz von Avignon“ bekannte Sängerin sichtlich über die neue Straßenbahn. Die Straßenbahnen böten eine gute Aussicht, seien ökologisch und somit ein Segen für die Stadt1https://youtu.be/ckTZId2Szoo.

„C’est le tramway du bonheur“ 

Mireille Mathieu
Stadttor Avignon
Mittelalter und moderne Straßenbahn treffen in Avignon zusammen. Hier an einem der sieben Haupttore der Stadtmauer, die als besterhaltenes Exemplar gilt (Foto: Bernhard Kußmagk)

Avignons erste Linie mit zehn Haltestellen verbindet die gewachsene Stadt mit der Altstadt. Von Saint-Chamand führt sie bis ans Rhône-Ufer bei Saint-Roch. In vier Jahren soll sie um 3,2 km entlang der Stadtmauer bis nach Saint-Lazare erweitert werden. Mit 26 Meter Länge sind die eingesetzten Straßenbahnwagen des Typs Alstom Citadis X05 Compact zwar vergleichweise kurz – fassen aber noch immer mehr Fahrgäste als ein 18-Meter langer Gelenkbus. Mit einer Breite von 2,40 Meter passen die Bahnen auch durch enge Straßen. Dieser Aspekt ist jetzt schon wichtig und wird mit dem Ausbau des Netzes an Bedeutung gewinnen. Dann soll nämlich auch ein Streckenast in die Altstadt geführt werden.

Straßenbahn in engem Straßenzug
Die 2,40 Meter breiten Straßenbahnen passen auch in enge Straßenzüge, wie hier in der Avenue Saint Ruf, zwischen den Haltestellen Arrousaire und Place Saint Ruf (Foto: Bernhard Kußmagk)

Im Gegensatz zu Elektrobussen verkehren die Straßenbahnen den ganzen Tag durch die Stadt – ohne schwere Batterien und Abhängigkeit von Ladezeiten. Es ist daher ein Glück, dass sich das Stadtparlament doch noch für den Bau der Straßenbahn entschieden hat, nachdem diese zu einem politischen Spielball geworden war. Politiker denken in Legislaturperioden. Eine Straßenbahnstrecke muss aber erstmal geplant und genehmigt werden, bevor sie realisiert werden kann. Dies ist bei Straßenbahnprojekten ein längerer Prozess als die Bauzeit selbst. Ändern sich in dieser Zeit die Mehrheitsverhältnisse im Stadtparlament, kann ein Straßenbahnprojekt wieder in Frage gestellt sein. Im Frühjahr 2014 stand auch Avignon vor dieser Situation. Zum Glück war der Stadtrat hier so besonnen eine Studie erstellen zu lassen, um die Konsequenzen eines Ausstiegs aus dem Straßenbahnprojekt prüfen zu lassen. Die Studie kam zu dem Schluss, dass Busse auf eigenen Trassen nur unwesentlich niedrigere Kosten als die Straßenbahn verursacht hätten. Im Falle eines Ausstiegs aus dem Straßenbahnprojekt hätte die Stadt aber 70-80 Millionen Euro verloren. 

Nach zwei Monaten Betrieb ist es noch zu früh, den Erfolg der neuen Straßenbahn zu beurteilen. Erfahrungen aus anderen französischen Städten lassen aber erwarten, dass die Straßenbahn bei der Bevölkerung gut ankommt und bald Wünsche nach einem weiteren Ausbau laut werden.

Rasengleis
Auf Rasengleis fährt die neue Straßenbahn in Avignon an der Stadtmauer entlang (Foto: Bernhard Kußmagk)

Der Autor dankt Bernhard Kußmagk für die Bereitstellung und Nutzungsrechte des Bildmaterials.

14.12.: Houten – Eine Stadt fürs Fahrrad gemacht

Diesmal gehen wir in die Niederlande und schauen uns dort die Verkehrspolitik an. Sie wird nicht umsonst immer wieder als Beispiel für gute Radpolitik angeführt. Eine Stadt steht hier besonders hervor: Houten in der Provinz Utrecht. Was genau diese Stadt so besonders macht, erfahrt ihr jetzt.

Vom Dorf zur Pendlergemeinde bei Utrecht

Houten liegt südwestlich von Utrecht und hat bis in die 1970er-Jahre ein paar wenige tausend Einwohner. Dann kam aber wegen der Nähe zu Utrecht die Entscheidung, dass Houten vergrößert werden soll. Es sollte Wohnraum für Menschen bieten, die in Utrecht arbeiten oder studieren. Somit hatten die Stadtplaner*innen damals die Möglichkeit, die Stadt vom Reißbrett aus zu planen und konzipieren.

Eine weitreichende Entscheidung

Wir wollten alles anders machen. Wir fingen also nicht mit dem Auto an, was in der Stadtplanung damals üblich war, sondern wir planten zuerst die anderen Bereiche ein. Die Grünflächen, das Laufen, Radfahren, das soziale Leben.

Robert Derks, in den 1970er-Jahren mitverantwortlicher Stadtplaner für das Verkehrskonzept

Mit dieser Überlegung planten sie das vergrößerte Houten so, dass das Fahrrad hier das Verkehrsmittel Nr. 1 ist. Das lässt sich auch leicht an Karten zur Stadt erkennen.

Dunkelgrün: Haupt-Fahrradrouten, die sich durch die gesamte Stadt ziehen
Hellgrün: Neben-Fahrradrouten
Blau: Herumführende Ringstraße und Verbindungsstraße für Autos
Braun: Einzelne Stichstraßen für Autos in jeweilige Viertel

Um durch die Stadt zu kommen, haben Rad Fahrende zahlreiche direkte Verbindungen über Hauptrouten und Nebenrouten. Diese sind meistens eigene Fahrradwege, die vom Autoverkehr entkoppelt und möglichst kreuzungsfrei auf einer eigenen Spur liegen.

Im Vergleich dazu gibt es (abgesehen von der Ringstraße und der Verbindungsstraße) nur sehr wenige Autostraßen, die verschiedene Stadtviertel miteinander oder mit dem Stadtzentrum verbinden. Dazu müssen Autos immer den Umweg über die Ringstraße wählen.

Darüber hinaus gilt in Houten ein generelles Tempo-30-Limit und an Kreuzungen zwischen Fahrradstraßen/-wegen und Autostraßen haben Fahrräder immer Vorrang. Damit ist das Fahrrad in Houten schlicht das schnellere Verkehrsmittel und für viele Einwohnende in Houten die erste Wahl.

Radverkehr und zu Fuß Gehende sowie Autos werden hier kreuzungsfrei geführt, hier unter der Ringstraße. (Bild: Houten, tunnel flickr photo by Branko Collin shared under a Creative Commons (BY-SA 2.0) license)

Auswirkungen

Wenn man sich den Modal Split von Houten ansieht, zeigt sich, dass das Konzept wirkt: 2013 wurden 44% der Wege werden in Houten mit dem Rad zurückgelegt.1VCÖ: VCÖ-Untersuchung: In welchen Städten Europas am meisten Rad gefahren wird (02.06.2013), … Continue reading Das war der weltweit höchste Wert. 2018 lag der Wert bei 40%.

Houten hat aber auch mit einem hohen Anteil des Autoverkehrs am Modal Split zu kämpfen. Die Ringstraße ist dort zu Stoßzeiten regelmäßig verstopft. Ein Grund dafür könnte der sehr niedrige ÖPNV-Anteil sein. Das liegt daran, weil es in Houten keinen lokalen ÖPNV gibt. Senior*innen haben dort z.B. die Möglichkeit, ein Golfcart als Taxi zum Festpreis zu bestellen.2Staub, Thomas: Fahrradstadt Houten 2018. Exkursionsbericht, https://www.fvv.tuwien.ac.at/fileadmin/mediapool-verkehrsplanung/Diverse/Lehre/Exkursionen/2018_Niederlande/staub-2018_Houten_v2.pdf

Was kann Wiesbaden daraus lernen?

Houten ist stadtplanerisch ein Spezialfall, weil es eben von Grund auf so geplant werden konnte, dass der Radverkehr Vorrang hat. Dennoch lassen sich zwei Dinge aus diesem Beispiel für Wiesbaden ableiten:

  • Für Neubaugebiete in Wiesbaden (z.B. das Ostfeld) ist es sinnvoll, das Fahrrad vor dem Auto zu bevorrechten und die Radinfrastruktur entsprechend von vornherein zu bauen.
  • Für bereits existierende Wohngebiete (und darüber hinaus) kann das Unterbrechen von aktuell durchgehenden Straßen sinnvoll sein. Z.B. die Wellritzstraße stellt hier ein solches Projekt im kleinen Maßstab dar.
  • Um eine zusätzliche Stärkung des Umweltverbunds zu erzielen, ist die Schaffung und Stärkung des ÖPNV-Angebots notwendig.

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Quellen

Quellen
1 VCÖ: VCÖ-Untersuchung: In welchen Städten Europas am meisten Rad gefahren wird (02.06.2013), https://web.archive.org/web/20140812061426/http://www.vcoe.at/de/presse/aussendungen-archiv/details/items/vcoe-untersuchung-in-welchen-staedten-europas-am-meisten-rad-gefahren-wird-02062013
2 Staub, Thomas: Fahrradstadt Houten 2018. Exkursionsbericht, https://www.fvv.tuwien.ac.at/fileadmin/mediapool-verkehrsplanung/Diverse/Lehre/Exkursionen/2018_Niederlande/staub-2018_Houten_v2.pdf

13.12. Aarhus: Unterwegs mit der „Letbane“

Wenn ich im Urlaub eine Stadt richtig kennenlernen will, kaufe ich mir eine Tageskarte und setze mich in die Straßenbahn. Ohne auf den Weg achten zu müssen, kann ich dann aus dem Fenster schauen. Draußen zieht die Stadt dann an mir vorüber und verändert sich mit jedem Kilometer Fahrt. 

Innenansicht eines Stadler Tango der Letbane Aarhus
Viel Platz für Kinderwagen, Rollstühle oder Fahrräder bietet der Innenraum der 40-Meter langen Züge des Typs Stadler Tango (Foto: sk)

Als ich im vorletzten Sommer Dänemarks zweitgrößter Stadt Aarhus (277.000 Einwohner) besuchte, nahm ich also den ersten Zug der Straßenbahn ohne mich vorher groß zu informieren. Es war die Linie 1 nach Greena – laut Liniennetzplan 1https://de.wikipedia.org/wiki/Aarhus_Letbane#/media/Datei:Aarhus_Letbane_kort.png trennten mich 14 Stationen von der Zielstation. Schon beim Betreten der Bahn – das Wort „einsteigen“ passt angesichts des niveaugleichen Einstiegs nicht mehr so ganz – fiel mir das angenehme Innendesign der Bahn auf.  Die Sitzpolster weisen keine grellen Muster auf. Ihr Wolltexil wirkt von weiten einfarbig, besteht aber beim näheren Hinsehen aus einer Kombination verschiedener Farben und kontrastierender Streifen. Je nach Lichteinfall bewegt sich die Polsterfarbe daher in einem Spektrum zwischen blau, grau und braun. Es ist ein Stoff, den ich mir auch für das heimische Sofa vorstellen könnte. Kein Wunder, ist er eine Variation eines Klassikers dänischem Texildesigns. 108 Fahrgäste finden in den 40 m langen Bahnen vom Typ Stadler Tango einen Sitzplatz. Die Anzahl der Stehplätze ist mit 148 angegeben 2https://de.wikipedia.org/wiki/Aarhus_Letbane.

Verstärkt wird der angenehme Eindruck durch die großzügigen Platzverhältnisse in den 2,65 m breiten Fahrzeugen. In den Mehrzweckbereich passen nicht nur Kinderwagen oder Rollstuhl sondern auch Fahrräder.

Blick aus Stadtbahn auf den Kattegat
Auf den Weg von Aarhus ins 70 Kilometer entfernte Greena fährt die Stadtbahn auch am Ostsee-Ausleger Kattegat entlang (Foto: sk)

Bereits kurz hinter dem Hafen verließ die Strecke das Stadtgebiet. Aus den großen Fenstern blickte ich jetzt direkt auf das Wasser des Kattegat, der zusammen mit dem Skagerrak die Verbindung zwischen Nord- und Ostsee bildet. Nach einer kurzen Strecke an der Küste schwenkte die Strecke wieder ins Landesinnere ein. Rechts und links der Strecke bildeten nun Felder, Wälder und Seen die wechselnde Kulisse. Die blassblaue Bahn hielt nun an kleinen Bahnhöfen, deren Baustil verriet, dass die neue Bahn eine alte Eisenbahnstrecke nutzte. Diese wurde elektrifiziert, da Hybridfahrzeuge teurer und technisch anfälliger sind. Als ich die Endstation Greena erreiche, habe ich 67 Kilometer zurückgelegt und dafür 75 Minuten gebraucht. Mit dem Auto wären es bei wenig Verkehr höchstens 10 Minuten schneller gewesen – Parkplatzsuche nicht eingerechnet. Die 14.500 Einwohner zählende Stadt Greena, auf der Halbinsel Djursland gelegen, bildet den nördlichen Endpunkt der Aarhus Letbane. Letbane heißt übersetzt Stadtbahn. Anders als eine klassische Straßenbahn, die sich meist ihre Fahrspur mit dem Autoverkehr teilt, verkehrt eine Stadtbahn überwiegend auf eigener Trasse. In der Stadt sind dies in Aarhus zwischen den Autofahrspuren verlegte Rasengleise,  dort wo viele Fußgänger kreuzen sind die Schienen in den Plattenbelag integriert. Außerhalb der Stadt fährt die Bahn auf einer Eisenbahntrasse. 

Rasengleis in Aarhus
In der Stadt verkehrt die Letbane auch auf Rasengleis. Hier ein 32,5 Meter lange Stadler Variobahn, die auf der kürzeren Linie 2 zum Einsatz kommt (Foto:sk)

Dank des Verkehrsverbundes Midttraffik konnte ich die Fahrt nach Greena ohne Sorge auch die richtige Fahrkarte zu haben genießen. Schon vor der Reise hatte ich mir online ein 48-Stunden-Touristen-Ticket 3https://www.midttrafik.dk/english/tickets/tourist-ticket-midttrafik-24-48-or-72-hours/ (englisch)für das gesamten Verbundgebiet gekauft.Der Regelbetrieb auf dem erste Abschnitt der Straßenbahn in Aarhus zwischen Hauptbahnhof und Universitätsklinik begann am 22.Dezember 2017. Der Abschnitt nach Greena wird seit dem 30. April 2019 befahren. Die Aarhus Letbane wird gut angenommen. Im Stadtgebiet sind an einem Wochentag – je nach Jahreszeit – zwischen 12.500 und 15.600 Fahrgäste unterwegs. Auf der Strecke nach Greena waren es in den aufkommensschwächeren Monaten Mai und Juni 3000 Fahrgäste pro Tag 4https://www.midttrafik.dk/nyheder/passagertal-pa-letbanen/ (dänisch)

Da an der Strecke neue Wohngebiete entstehen, ist mit einem weiteren Fahrgastzuwachs zu rechnen. Zudem existieren an der Strecke neue Park+Ride-Parkplätze, die bereits mit Lademöglichkeiten für Elektroautos ausgestattet sind. Auch mit der Zuverlässigkeit der neuen Stadtbahn-Züge ist man in Aarhus zufrieden. Die Bilanz der ersten 100 Tage weist einen zu 99,3% stabilen Betrieb aus. In dieser Zeit legten die 26 Bahnen schon 230.000 Kilometer zurück 5https://www.lok-report.de/news/europa/item/6099-daenemark-aarhus-letbanen-laeuft-rund.html.

Aarhus Stadtansicht
Blick auf Aarhus mit der weitläufigen Fußgängerzone in der Innenstadt und rechts im Hintergrund dem Kattegat (Foto: sk)

Eine Reise nach Aarhus, das von Hamburg direkt mit der Eisenbahn erreichbar ist, lohnt sich nach dem Ende der pandemiebedingten Reisebeschränkungen nicht nur wegen der schönen Stadt und der schicken Straßenbahn. Mitten in der Stadt befindet sich auch das Freiluftmuseum Den Gamle By – zu deutsch „die alte Stadt“. Wie im Hessenpark wurden hier alte Gebäude, für die es an ihren Originalstandort keine Verwendung mehr gab, wieder aufgebaut. Anders als in anderen Freilichtmuseen kann man hier aber gleich in drei Epochen eintauchen: in das Jahr 1864, 1927 und 1974. Da die Türen zu den Häusern offen sind, kann man sich auf eine Entdeckungsreise machen. Selbst Keller oder auf dem Speicher wurden authentisch ausgestattet. Insbesondere die Wohnungen des Stadtviertels, welches das Jahr 1974 repräsentiert, sind mit originalen oder nach echten Vorbildern nachgestellten Einrichtungen möbliert. Auf mehrsprachigen Informationstafeln erfährt man wer in der Wohnung gelebt hat. Es kann sogar passieren, dass man noch „Bewohner“ oder Handwerker antrifft. In kaum einen anderen Museum erlebt man die vergangene Zeit so lebensnah. 

Kapitel 2 – Bahnsinnig Steigerung

Seit dem 21. Dezember 2017 fährt im dänischen Aarhus (335 000 Einwohner) wieder eine Straßenbahn. Es ist das erste von drei Neubauprojekten in Dänemark, wo seit 1972 keine Straßenbahn mehr fuhr. Neben Aarhus wird in Odense (180 000 Einwohner) im Jahr 2020 und in Kopenhagen (610 000 Einwohner) im Jahr 2024 eine neue Straßenbahn eröffnet.

Nach etwa 100 Tagen liegt das Fahrgastaufkommen knapp 40 Prozent über dem Niveau, bei dem Strecke durch Bussen bedient wurde. Sechs Prozent der Fahrgäste verzichten auf die Fahrt mit dem Auto zugunsten der Straßenbahn. Die Immobilienpreise entlang der betriebenen sowie entlang geplanter Strecken ziehen laut ortsansässigen Immobilienmaklern bereits an.

Die Aarhus Letbane ist als Stadt-Umlandbahn konzipiert und verbindet auf derzeit zwei Linien das Stadtzentrum von Aarhus mit den umliegenden Gemeinden. Weitere Streckenverläufe sind in Planung.

12.12. – Caen: Von der Gummibahn zur Straßenbahn

Sie ist das neue „Ungeheuer von Loch Ness“: Die chinesische Straßenbahn ohne Schienen, die immer mal wieder zu nachrichtenschwachen Zeiten in den Medien auftaucht. Neu oder gar bahnbrechend ist die Straßenbahn auf Gummireifen nicht, wie unser heutiger Blick auf die französische Stadt Caen zeigt. Dort fuhr 15 Jahre lang ein als „Transport sur voie réservée“ (TVR) bezeichneter spurgeführter Doppelgelenkbus. Aufgrund anhaltender Probleme wurde Caen mit diesem System aber nie glücklich. Nach dem Motto „Lieber ein Ende mit Schrecken als ein Schrecken ohne Ende“ entschied sich die Stadt 2014 den Betrieb der TVR-Spurbusse einzustellen und durch eine richtige Straßenbahn zu ersetzen. Am 27. Juli 2019 eröffnete Caen seine neue Straßenbahnstrecke. Damit ist Caen die 23. Stadt in Frankreich, die seit 1985 die Straßenbahn wieder eingeführt hat. 

Spurbus und Straßenbahn
Zwei Jahre liegen zwischen diesen beiden Aufnahmen am Bahnhof von Caen: Links der Spurbus TVR und rechts die Straßenbahn (Fotos linkes Bild: Cramos, TVR n°521 de Caen à la gare SNCF par Cramos, CC BY-SA 4.0, rechtes Bild: Bernhard Kußmagk)

Bahn ohne Schienen: Versprechen und Wirklichkeit

Um zu erklären, wie es zu diesem Sinneswandel kam, muss man etwas zurückblicken. Schon 1937 wurde in Caen der Straßenbahnbetrieb zugunsten des Auto- und Busverkehrs stillgelegt. Nach dem Krieg wurde die Stadt mit breiten Straßen autogerecht ausgebaut. Ende der 1980er Jahre merkte man in Caen, dass ein leistungsfähigeres Nahverkehrssystem als der Bus gebraucht wurde. Zur gleichen Zeit testete die Firma Bombardier gerade ihr TVR-System mit spurgeführten Doppelgelenkbussen. Wie bei der chinesischen Straßenbahn ohne Schienen versprach der Hersteller ein System das die Vorteile der Straßenbahn mit geringeren Investitionskosten erreicht. Statt zwei Schienen wurde nur eine Schiene zur Spurführung benötigt. Das Gewicht des Fahrzeugs ruht auf herkömmlichen Busreifen. Als Vorteil wurde auch die Flexiblität gepriesen, da das Fahrzeug den spurgeführten Bereich verlassen kann und dann vom Fahrer gelenkt wird. Voraussetzung dafür ist aber entweder ein separater Dieselantrieb oder eine bei Oberleitungsbussen gebräuchliche doppelpolige Oberleitung. Auch wenn es aus Imagegründen als Straßenbahn bezeichnet wurde, war die „Tramway sur Pneus“ eher ein spurgeführter Oberleitungsbus.

Der Spurbus TVR, wie er bis Ende 2017 in Caen fuhr. Deutlich ist vorne zu erkennen, dass er auf normalen Busreifen fährt und immer die selbe Spur des Straßenbelags belastet. (Bild: Caen flickr photo by Patrick Müller shared under a Creative Commons (BY-NC-ND) license)

Offenbar sind gerade in Städten, die sich früh von der Straßenbahn getrennt haben, die Vorbehalte gegenüber diesem Verkehrsmittel besonders groß. Während im 300 Kilometer entfernten Nantes bereits 1985 wieder die Straßenbahn eingeführt wurde, setzten die Stadtväter von Caen auf den neuen Wunderbus. In Ihrer Euphorie schlugen sie Warnungen vor dem noch nicht ausgereiften System und den langfristigen Folgen in den Wind 1http://www.fea-frauenfeld.ch/caen—vom-pneutram-zum-richtigen-tram.html. Kurzfristige Einsparungen, wie der Verzicht auf Eisenschienen, mussten aufgrund von mittelfristig auftretenden Kosten, wie der Beseitigung von tiefen Spurrillen im Straßenbelag teuer bezahlt werden 2 https://de.wikipedia.org/wiki/TVR_Caen. Bei einem reinen batteriegetriebenen System wie dem chinesischen Spurbus, müssten auch alle paar Jahre die hochpreisigen Batterien getauscht werden. Ein weiterer Nachteil von Spurbussystemen ist die fehlende Möglichkeit die Kapazität durch längere oder zusammengekuppelte Fahrzeuge zu erweitern, da die Länge gesetzlich begrenzt ist. Schließlich macht man sich mit einem speziellen System von einem Hersteller abhängig. Alle diese Probleme machten dem Spurbus in Caen und einem ähnlichen System in Nancy zu schaffen. Die Abhängigkeit von einem Hersteller erwies sich als fatal, als Bombardier 2004 mangels Erfolg die Produktion seiner 25 Meter langen TVR-Busse einstellte und somit auch keine Ersatzteile mehr lieferte. Vier Jahre nach Inbetriebnahme zeichnete sich damit schon ab, dass die Gummibahn in Caen nicht von Dauer sein würde. 

In 18 Monaten zur echten Straßenbahn

In Caen hat man für den spurgeführten Bussen viel Lehrgeld bezahlt. Ende 2017 fuhr der letzte Spurbus, anschließend wurden die Anlagen abgebrochen um Platz für eine richtige Straßenbahn zu machen. Die verbliebenen Spurbusse wurden nach Nancy abgegeben, wo sie als Ersatzteilspender dienen bis auch dort eine richtige Straßenbahn fährt. Auch in Caen bewahrheitete sich die Aussage, dass die reine Bauzeit einer neuen Straßenbahnstrecke „selten länger als anderthalb Jahre dauert“ 3 GRONECK, Christoph (2003): Neue Straßenbahnen in Frankreich. EK-Verlag, S.17. Denn bereits am 27. Juli 2019 konnte das neue 16,2 km langes Tramnetz mit 3 Linien eröffnet werden. Die Bauzeit für die Spurbustrasse war seinerzeit mit 3 Jahren doppelt so lang gewesen.

Straßenbahn in Caen - historisches Umfeld
Die neue Straßenbahn von Caen passt ins historische Umfeld des Place Saint-Pierre. Ein Straßenbahnzug hat das Fassungvermögen von 150 durchschnittlich besetzter Pkw (Foto: Bernhard Kußmagk)

In Frankreich ist die Straßenbahn nicht nur ein Verkehrsmittel um bequem von A nach B zu kommen. Mit dem Bau der Strecke werden auch Stadträume aufgewertet. Da sich Straßenbahnschienen mit den verschiedensten Materialien – wie Steinplatten, Pflasterungen oder Vegetation – kombinieren lassen, gibt es zahllose Möglichkeiten zur Integration ins Stadtbild. So ist in Caen die Hälfte der Strecke jetzt als Rasengleis ausgeführt. Auch die Straßenbahnwagen, mit ihrem schicken Design und in Frankreich fast immer ohne Werbung, dienen nicht nur der Aufnahme der Fahrgäste sondern auch der Identifikation der Bürger mit ihrer Stadt. Wie in vielen anderen französischen Städten konnten daher auch die Bürger von Caen über das Design der neuen Straßenbahnen abstimmen4http://www.tramway.at/caen/caen.html.

Straßenbahn Caen Wohnbebauung
Mit ihrer Rasentrasse fügt sich die neue Straßenbahn von Caen auch in Wohnumfeld ein. Hier aufgenommen an der Avenue de la Grande Cavée, westlich der Endhaltestelle Hérouville Saint-Clair (Foto: Bernhard Kußmagk)

Kein großer Preisunterschied

War die Straßenbahn auf Stahlrädern jetzt wirklich so viel teuer als die „Tramway sur Pneus“? Nein, denn für den Bau der Spurbusanlagen mussten schon im Jahr 2002 samt Fahrzeugen 227 Mio Euro bezahlt werden 5https://en.wikipedia.org/wiki/Caen_Guided_Light_Transit. Die 1,5 km längeren Straßenbahnstrecken kosteten 2018 rund 250 Mio. Euro, dazu kamen rund 51,5 Millionen Euro für die neuen leistungsfähigeren Straßenbahnwagen 6https://de.wikipedia.org/wiki/Stra%C3%9Fenbahn_Caen. In Frankreich betrug die Preissteigerung zwischen 2002 und 2018 rund 25% 7z.B. zu berechnen auf https://www.laenderdaten.info/Europa/Frankreich/Inflationsraten.php. Bei heutigem Geldwert lagen die Bau- und Fahrzeugkosten für den Spurbus also bei rund 283 Mio. Euro. Vergleicht man nun noch die Lebensdauer der beiden Systeme (15 Jahre für den Spurbus, mindestens 30 Jahre für die Straßenbahn) hat sich in Sachen Spurbus das Sprichwort „Wer billig kauft, kauft teuer“ bewahrheitet. 

Der Autor dankt Bernhard Kußmagk für die Bereitstellung und Nutzungsrechte des Bildmaterials.

11.12. – Kansas City: Mit dem ÖPNV zur sozialen Stadt?

Seit Beginn der 2000er haben in den Vereinigten Staaten von Automerika ein Dutzend Städte neue Straßenbahnsysteme eröffnet -weitere folgen. So eröffnete auch Kansas City (Missouri) 2015 eine neue, rund dreieinhalb Kilometer lange Linie durch das Stadtzentrum – von der Union Station zum River Market. Aber das ist nicht die eigentliche Meldung.

Am 05. Dezember 2019 beschloss der 13-köpfige Stadtrat einstimmig (!), den öffentlichen Nahverkehr gratis zu machen. Damit ist Kansas City die erste US-amerikanische Großstadt, die einen flächendeckend kostenlosen Nahverkehr zur Verfügung stellt – mit hochgradig interessanten Begründungen.

♫ One more lane will fix it ♪
In Kansas City ist das Auto (wie in anderen, US-Amerikanischen Städten) das Verkehrsmittel Nummer 1. Die gezeigte Interstate hatte bereits 1998 zehn Spuren.
(Bild: kansas-city-traffic flickr photo by Thomanication shared under a Creative Commons (BY-ND) license )

Während die Straßenbahn bereits seit ihrer Eröffnung gratis war, entfallen nun die Fahrpreise im Busnetz der Stadt. Zuvor kosteten Einzelfahrten 1,50 USD, Monatstickets waren für 50 USD erhältlich. Insgesamt neun Millionen USD stellt die Stadt dafür zusätzlich bereit.

Zum Nahverkehr in Kansas City

Auf 80 Buslinien unterhält die städtische KCATA 330 Solobusse – darunter Erdgas-, Hybrid- und seit neuestem auch Elektrobusse. 2005 eröffnete in Kansas City unter dem Markennamen MAX (Metro Area Express) die erste Expressbuslinie – mit durchaus beachtlichem Erfolg. So konnten die Fahrgastzahlen auf den betroffenen Routen binnen der ersten Jahre um 50% gesteigert werden. Auch die Straßenbahn freute sich im Frühjahr 2019 über ihren sechs-Millionsten Fahrgast.

Da jeder Zug mit einer automatischen Zählung versehen ist, gibt der Betreiber die Fahrgastzahlen sogar tagesscharf an – mit interessanten Einblicken. So zeigt der Blick auf die Ist-Auslastung: Am Samstag sind im Schnitt doppelt so viele Menschen mit der Bahn unterwegs wie sonntags oder an Werktagen. Auch sind über die Sommermonate mehr Menschen mit der Bahn unterwegs als im Winter.

Traum und Alptraum der Verkehrsplanung gleichermaßen: Dichte Blockbebauung, riesige Parkplätze und (überdimensioniert wirkende) Straßen zeichnen das Stadtbild.

(Bild: Kansas City Photos flickr photo by Pam_Broviak shared under a Creative Commons (BY-SA) license )

Beide Erfolgsgeschichten dürfen allerdings nicht darüber hinweg täuschen, dass die Bedeutung des ÖPNV in Kansas (noch) recht gering ist. So werden die MetroBus-Linien beispielsweise mit einem „zehn-Minuten-Takt mit Solobussen“ beworben. Angesichts von Wiesbadener Linien, die im acht-Minuten-Takt mit Gelenkbussen fahren und dennoch zu voll sind, wird klar: Da ist noch Potenzial.

Interessante Begründungen

Umso wichtiger ist nun das Zeichen, den ÖPNV komplett kostenlos zu gestalten. Während das in anderen Städten angesichts voller Straßen und schlechter Luft auch diskutiert wird, äußern die Stadtratsmitglieder vom Kansas sehr interessante Gründe für ihr Vorgehen. Denn für die Stadt ist kostenloser ÖPNV kein ökologisches Projekt – sondern ein soziales.

When we’re talking about improving people’s lives who are our most vulnerable citizens, I don’t think there’s any question that we need to find that money (…) I believe that people have a right to move about this city.

Eric Bunch, Kansas City Council
Die 2005 unter dem Markennamen MAX (Metro Area Express) eingeführten Expressbuslinien konnten das Fahrgastaufkommen auf den ausgewählten Strecken um die Hälfte steigern. Vorn befinden sich zwei Fahrradhalterungen.

(Bild: MAX Bus on Main flickr photo by pasa47 shared under a Creative Commons (BY) license )

So argumentiert Stadtrat Eric Bunch: Mobilität in der Stadt sei ein Grundrecht der Einwohner. Von kostenlosem ÖPNV könne die Gemeinschaft drastisch profitieren. Finanziell schwache Einwohner können sich nun leisten, in die Innenstadt oder andere Viertel zu fahren – mit positiven Folgen für das Zusammenleben.

Given the ubiquity of fare-evasion arrests, this is part of what ending mass incarceration looks like: Kansas City moves to make mass transit free.

David Menschel, Strafverteidiger

Zusätzlich, so argumentiert Rechtsanwalt David Menschel, sei gratis ÖPNV ein geeignetes Mittel gegen die Kriminalisierung von Armut. Die Spirale Armut – Schwarzfahren – Gefängnis sei anders kaum zu durchbrechen.

Die Metrobusse verfügen vorn über zwei Radhalterungen – im Innern der 12-Meter-Busse ist dafür kaum Platz. (Bild: Kansas City flickr photo by luca.sartoni shared under a Creative Commons (BY-SA) license )

09.12. – Hamburg: „Ottensen macht Platz“

Die Notwendigkeit der Verkehrswende wurde vielerorts erkannt. Daher finden an zahlreichen Orten in Deutschland, Europa und weltweit verschiedene Pilotprojekte, Feldversuche und auch bereits dauerhafte Maßnahmen, die darauf abzielen, die Mobilität neu zu organisieren. Weg von einer stark auf das eigene Auto ausgelegten Mobilität, hin zu einer Mobilität, in der der Umweltverbund die Mehrheit aller Wege ausmacht.

Was in Wiesbaden die Fußgängerzone in der Wellritzstraße, ist in Hamburg „Ottensen macht Platz“. Dieses Projekt möchten wir euch hier im Rahmen unseres Adventskalenders vorstellen.

„Ottensen macht Platz“

Im Februar dieses Jahres hat die Altonaer Bezirksversammlung aus dem Experiment eines autoarmen Quartiers ein dauerhaftes Verkehrsmodell gemacht, das auch Auswirkungen auf zukünftige verkehrspolitische Maßnahmen in Deutschland drittgrößter Stadt haben kann.

Seit September 2019 lief im 35.5000 Einwohnende zählenden Distrikt Hamburg-Ottensen, ein Teil des Bezirks Altona, die Verkehrsberuhigungsmaßnahme als Modellprojekt. Testweise wurden sechs Monate lang fünf Straßenzüge für den motorisierten Individualverkehr gesperrt. So konnten u.a. die bereits existierende kleine Fußgängerzone in der Ottenser Hauptstraße, der Spritzenplatz und der Alma-Wartenberg-Platz miteinander verbunden werden.

Projektsgebiet mit Darstellungen von Lieferwegen und sog. Pick-up Points
© Bezirksamt Altona (https://ottensenmachtplatz.de/ueber-das-projekt/)

In dieser Versuchszeit galten die Bestimmungen wie in jeder anderen „normalen“ Fußgängerzone: Be- und Entladen war zwischen 23.00 und 11.00 Uhr erlaubt, Taxis und Marktbeschicker dürfen auch einfahren, genauso Autobesitzende mit Sondergenehmigung (z.B. aufgrund eines privaten Stellplatzes oder Schwerbehinderte).1Ottensen macht Platz: https://ottensenmachtplatz.de/ueber-das-projekt/ Ansonsten blieb der Bereich für Autos und Lkws gesperrt.

Für die Anwohnenden im Projektgebiet, die keinen privaten Stellplatz haben, wurden in umliegenden Parkhäusern vergünstigte Konditionen für Dauerstellplätze verhandelt.

Wie findet Ottensen das?

Während zur Halbzeit des Modells im November 2019 Medien aus dem ganzen Land über den Stadtteil und das Modellprojekt berichteten, hielt sich die Akzeptanz vor Ort vordergründig in Grenzen. Einer nicht repräsentativen Umfrage zufolge fanden nur 15% der Befragten den Zwischenstand gut oder sehr gut.2Artikel über Umfrage von FINK.HAMBURG: https://fink.hamburg/2019/10/ottensen-ist-autofrei-das-sagen-die-anwohner-und-ladenbesitzer/ Wenn man sich dann aber zitierte Aussagen von Befragten in der gleichen Umfrage durchliest, fällt auf, dass die mehrheitliche Meinung ein autofreies Ottensen zu befürworten scheint.

Wir haben eher ein positives Gefühl, dass die Leute sehr viel entspannter sind, weil sie Platz haben zum Laufen. […] Du bist halt sehr limitiert vom Platz her und das macht meiner Meinung nach immer schlechte Laune.

Alexandra Herzog, Filialleiterin eines Modegeschäfts im Projektgebiet3aus SPIEGEL-Bericht bei Facebook: https://www.facebook.com/DerSpiegel/videos/526923478155091

Woran sich viele zu stören schienen, war nicht die autofreie Zone an sich, sondern die Art der Umsetzung. So beklagte der Geschäftsführer eines Möbelgeschäfts sich über die triste Gestaltung der Versuchszone.

Natürlich sollen keine fest installierten Sitzinseln für sechs Monate hingestellt werden. Aber man kann zumindest Palmen oder Rhododendren aufstellen.

Marcus Krützfeldt, Geschäftsführer „Der Schaukelstuhl“4Ottensen ist autofrei: Das sagen die Anwohner und Ladenbesitzer: https://fink.hamburg/2019/10/ottensen-ist-autofrei-das-sagen-die-anwohner-und-ladenbesitzer/

Es gab auch Gegenstimmen. So klagte der Inhaber einer Textilreinigung in einem SPIEGEL-Bericht über Umsatzeinbußen. Eine Anwohnerin gründete sogar eine Bürgerinitiative, um „Ottensen macht Platz“ und die Autofreiheit des Projektgebiets teilweise zurückzudrehen, weil laut ihrer Aussage Anwohnende und Gewerbetreibende unnötig eingeschränkt würden.

So sah die Ottenser Hauptstraße zwischen Mottenburger Straße und Bahrenfelder Straße früher aus. (Bild: Raser in Ottensen, flickr photo by www.sommer-in-hamburg.de, shared under a Creative Commons (CC BY-SA 2.0) license)

Im Vergleich zur Wellritzstraße

Wie schon anfangs erwähnt, drängen sich die Vergleiche zum Versuchsprojekt in der Wellritzstraße zwischen Helenenstraße und Hellmundstraße auf. Doch gibt es ein paar entscheidende Unterschiede.

Die Fußgängerzone in der Wellritzstraße ist deutlich kürzer als das Projekt in Ottensen. Es beschränkt sich auf einen Abschnitt von ca. 120 Metern, während in Hamburg gleich fünf Straßenzüge von insgesamt ca. 760 Metern gesperrt wurden. Das hat natürlich eine größere Anzahl an Betroffenen (Anwohnende, Geschäftstreibende etc.) zur Folge.

Angesiedeltes Gewerbe

Im Versuchsgebiet in Hamburg-Ottensen ist die Gewerbestruktur eine völlig andere als in der Wellritzstraße. Wie bereits erwähnt gibt es dort eine Textilreinigung, aber auch Kleiderläden, eine Buchhandlung sowie Restaurants und Cafés. In der Wellritzstraße befinden sich vor allem Gastronomie, zwei Handyshops sowie der Wellritzhof.

Während der Probephase wurde das Projekt von der TU Hamburg-Harburg wissenschaftlich begleitet. Verkehrszählungen, eine schriftliche Befragung der Anwohnenden und Passantenbefragungen wurden ausgewertet und die Ergebnisse am Ende des Projekts der Öffentlichkeit vorgestellt. Die Auswertung ist mit in die Entscheidung der Bezirksversammlung eingeflossen. Während das Vorhaben Fußgängerzone Wellritzstraße immer nur etappenweise verlängert wird, erwägen die Verantwortlichen in Ottensen, die Straßenzüge auch durch Umbauten dauerhaft vom Autoverkehr zu entwöhnen.

08.12.: Groningen – freie Fahrt für emissionsfreie Bürger

Wie im Autoscooter, so sieht der Alltag auf den Straßen aus. Quietschende Reifen, Stillstand, Gedränge, Kampf um die Vormacht, Autofahrer gegen Radfahrer, Radfahrer gegen Fußgänger… Die Stadt Groningen in den Niederlanden macht vor, wie es anders aussehen kann: Auch ohne breite Straßen kommen sich die Verkehrsteilnehmer kaum in die Quere.

Dabei zog sich auch durch die 200.000-Einwohner-Stadt im Nordosten der Niederlande, 75 km vom ostfriesischen Leer entfernt, einst die übliche Blechlawine. Bis 1977, als vorausschauende Stadtplaner diesen Zustand nicht nur beklagten, sondern umwälzende Entscheidungen in die Tat umsetzten. Sie ließen den motorisierten Verkehr schlicht nicht mehr durch die Stadtmitte. Die wurde stattdessen in vier Sektoren unterteilt, die mit dem Auto jeweils nur über Sackgasseneinfahrten zu erreichen sind. Um von einem dieser Quartiere ins Nachbarareal zu gelangen, ist es daher notwendig, jeweils auf die vierspurige Ringstraße um das Zentrum zurückzufahren und dort entlang zu kreisen, bis die passende Einfahrt kommt.

Parkanlagen, die grüne Lunge Groningens, sind nur für umweltfreundliche Fortbewegungsmittel passierbar.
(Bild: flickr photo by bramwillemse shared under a Creative Commons (BY-NC-ND) license )

Diese Einschränkung führte dazu, dass die Innenstadt vom motorisierten Durchgangsverkehr mit seinen Beigaben wie Lärm, Abgasen, Stau entlastet ist. Zugleich ist der umweltfreundliche Transit per Rad oder Bus privilegiert. Wer nicht mit dem PKW unterwegs ist, darf sich ungehindert durch die Innenstadt bewegen. Auf diese Weise wird die notorische Benachteiligung der schwächsten Verkehrsteilnehmer auf begrenztem Raum in das Gegenteil verkehrt. Während Autos in der Regel länger brauchen, um auf Umwegen ihr Ziel zu erreichen, haben Radfahrer freie Fahrt auf direkten Weg und die Fußgänger mehr Raum zur Verfügung.

Im Ergebnis schnellte der Anteil von Pedalen an den Fortbewegungsantrieben in Höhe. Heute wird jede zweite Strecke in Groningen auf zwei Rädern zurückgelegt, in der Innenstadt sind es sogar 60 Prozent. Kein Wunder: Das Velo ist dort das mit Abstand schnellste und günstigste Verkehrsmittel. Auch die Verknüpfung mit einem effizienten Nahverkehr, das öffentliche Verleihsystem, gut über die Stadt verteilte Abstellmöglichkeiten und die Einführung von Cargo-Lieferungen machten Groningen zur eigentlichen Fahrradhauptstadt. 1Zukunft Mobilität, 10. Oktober 2013, Martin Randelhoff: „Groningen: Die wahre Fahrradhauptstadt“. … Continue reading

Mit über 60 Prozent Fahrradanteil in der Innenstadt ist Groningen die eigentliche Radhauptstadt.

(Bild: Groningen flickr photo by Claudio Olivares Medina shared under a Creative Commons (BY-NC-ND) license )

Wenig überraschend, verlief die konsequente Umgestaltung des Verkehrssystems auch hier nicht ohne Widerstände. Insbesondere der Einzelhandel fürchtete ohne ungehinderte Zufahrtsmöglichkeit für motorisierte Kunden Umsatzeinbußen. Doch diese Sorge erwies sich als unbegründet, das Gegenteil trat ein. Das entspannte Einkaufserlebnis und die bessere Erkennbarkeit des Angebots aus Radfahrer- oder Fußgängerblickwinkel sorgte für größeren Zulauf.

Natürlich lässt sich solche Verkehrspolitik nur mit Verboten realisieren. Die Autorouten sind reglementiert, anders wäre Chaos programmiert. Dennoch ist den Planern sehr an Wahlfreiheit für die StadtbewohnerInnen gelegen. „Es geht uns darum,“ sagt der Groninger Rad- und Fußverkehrskoordinator Jaap Valkema2Zeit Online, 12. Mai 2018, Mark Spörrle: „Beim Radfahren haben wir schon eine etwas andere Haltung“. Interview mit dem Rad- und Fußverkehrskoordinator Jaap Valkema aus Groningen. … Continue reading, „dass sich die Leute je nach Route bewusst entscheiden, ob sie das Auto, den Bus oder das Fahrrad nehmen. Führt ihr Weg durch einen Park oder ein Wohngebiet, nehmen sie eher das Rad, weil sie dort viel angenehmer fahren können. Wer die Hauptverkehrsstraße entlangmuss, entscheidet sich eher für das Auto.“

Trotz rigoroser Eingriffe war den Reformern stets das Einvernehmen mit den BürgerInnen wichtig. „Wir versuchen das Augenmerk darauf zu lenken, was man dadurch gewinnt, wenn man woanders etwas einschränkt“, beschreibt Koordinator Valkema. „Vor einigen Jahren haben wir zum Beispiel angefangen, die Zahl der Busse in der Innenstadt zu verringern. Den Platz auf der Straße, den wir damit gewonnen haben, wissen die Bürger schon zu schätzen. Oft bestätigt sich auch gar nicht, was die Leute befürchten. Die Innenstadt hat für die Leute viel mehr Aufenthaltsqualität bekommen. Jetzt heißt es sogar: Die Stadt geht nicht weit genug, es sind immer noch zu viele Autos da!“

Vor dem Bahnhof wird es bisweilen eng, noch einen Abstellplatz für seinen Drahtesel zu finden.
(Bild: IMG_4758 flickr photo by stupidhead shared under a Creative Commons (BY-SA) license )

Dass sich im Stadtgebiet die Mehrheit für das Fahrrad entscheidet, hat sicher auch mit dem hohen Anteil von Studierenden, mit 50.000 ein Viertel der Gesamtbevölkerung, zu tun, die den Stadtverantwortlichen den Umstieg erleichtert haben. Doch der Erfolg wird nun stellenweise bereits zum Problem. In den Fahrradschneisen herrscht oft genug so dichtes Gedränge, dass Alternativrouten empfohlen werden. Die Abstellflächen um den Bahnhof sind im Semester hoffnungslos überfüllt, und manche Geschäfte sind von Rädern derart zugeparkt, dass ein Durchkommen kaum noch möglich ist. Manche Ladenbesitzer fürchten bereits, dass radfahrende KundInnen auf Abwege umgeleitet werden. Solche Sorgen würden KollegInnen in anderen Städten herbeisehnen.

Quellen

Quellen
1 Zukunft Mobilität, 10. Oktober 2013, Martin Randelhoff: „Groningen: Die wahre Fahrradhauptstadt“. https://www.zukunft-mobilitaet.net/34091/urbane-mobilitaet/groningen-niederlande-radverkehr-dokumentation/
2 Zeit Online, 12. Mai 2018, Mark Spörrle: „Beim Radfahren haben wir schon eine etwas andere Haltung“. Interview mit dem Rad- und Fußverkehrskoordinator Jaap Valkema aus Groningen. https://www.zeit.de/hamburg/2018-05/elbvertiefung-31-05-2018

06.12.: Kiezblocks in Berlin

Barcelona, Berlin, Biebrich? Vor gut zwei Jahren wurden in Barcelona die ersten Superblocks umgesetzt. Am 30. Oktober letzten Jahres hatte die Bezirksverordnetenversammlung Friedrichshain-Kreuzberg (Berlin) für die Einführung des ersten Superblocks in Berlin gestimmt – doch die Umsetzung lässt in diesem coronagehandicapten Jahr noch immer auf sich warten.

Die simple Idee stammt aus Barcelona: Die Wohnviertel vom Durchgangsverkehr befreien und so Platz für die Anwohner zu schaffen – zum Aufenthalt, zum Leben, für Gastronomie, Grün, Rad und Fußverkehr.

Superblock
Konzept eines „Superblocks“ Grafik: Agéncia d’Ecologia Urbana de Barcelona

Dabei hilft das schachbrettartige Layout der Stadt ungemein. Statt Verkehr auf allen Straßen zuzulassen, werden mehrere Wohnblocks zu einem Superblock zusammengefasst. Die inneren Straßen werden zu Fußgängerzonen – Notfallfahrzeuge kommen weiterhin rein, per Zugangskontrollen ebenso die Anwohner. Durchgangsverkehr muss draußen bleiben. Für den Lieferverkehr werden wohldefinierte Parkplätze vor- und freigehalten.

Der Wasserturm in der Fidicinstraße im Berliner Bergmannkiez. (Bild: JoachimKohlerBremen, Fidicinstr. 36 und Wasserturm (Kopischstr. 7) in Berlin-Kreuzberg, CC BY-SA 4.0)

Ganz so radikal wie in Barcelona dürfte der Superblock im Berliner Bergmannkiez zwar nicht ausfallen – denn Fahrten mit dem PKW werden weiter möglich. Allerdings soll die Verkehrsführung angepasst werden. Autos, die von einer Hauptstraße in das Viertel einbiegen, werden so geleitet, dass sie auf derselben Hauptstraße wieder rauskommen. Parken, Be- und Entladen soll damit weiter möglich sein – Durchfahren aber nicht. Für die schnellen Radfahrer (also den Rad-Transitverkehr) sollen auf den umgebenden Hauptstraßen Radwege entstehen – und diese damit aus dem Viertel ebenfalls raushalten.

Der Bergmannkiez

Der Bergmannkiez ist mit einer Fläche von knapp 60 Hektar in etwa so groß wie das historische Fünfeck in Wiesbaden. Dem Beschluss voraus war die Anwohnerinitiative „Bergmannkiez für Menschen statt für Durchgangsverkehr.“ gegangen. Sie hatten in einer Umfrage die Zustimmung der Mehrheit der Anwohner*innen erhalten. Mittlerweile heißt es aus der zuständigen Bezirksverwaltung nur noch zurückhaltend, die Ergebnisse der Befragung würden von der „Fachabteilung bearbeitet.“

Gut möglich, dass auf diese Weise ein Straßenzug im nördlich gelegenen Waldseeviertel das Rennen macht. Die Bezirksverwaltung Reinickendorf empfahl dem Bezirksamt ohne Gegenstimmen, „temporäre Modalfilter“ – im Volksmund auch Blumenkübel genannt – zu installieren.

Derart einfache Maßnahmen sollten könnten auch in geeigneten Bereichen in Wiesbaden untersucht werden – denn auch hier leiden Anwohner vielerorts unter dem Durchgangsverkehr.

05.12. – Wien: Das 365€-Ticket im Gesamtkonzept

Zum 1. Mai 2012 wurde in Wien als erster Stadt überhaupt das 365€-Ticket von der rot-grünen Wiener Regierung eingeführt. Die Wiener Grünen hatten sogar eine Jahreskarte für nur 100€ zunächst gefordert. Auch so erbrachte das 365€-Ticket eine Preisreduktion von 85€.1Wiener Linien: Die Jahreskarte um 1 Euro pro Tag: https://www.diepresse.com/682709/wiener-linien-die-jahreskarte-um-1-euro-pro-tag Die Ticketpreise wurden seither nicht erhöht.

1., Innere Stadt — Changing After 101 Years
Eine Straßenbahn der Linie 2.
(Bild: Douglas Sprott, 1., Innere Stadt — Changing After 101 Years, als gemeinfrei gekennzeichnet (CC BY-NC 2.0), Details auf Creative Commons)

Damit bietet Wien eine im Vergleich zu anderen Städten ausgesprochen günstige Jahreskarte für Erwachsene an:

Eine Randnotiz

Senioren ab 63 Jahre zahlen sogar nur 235€ für eine Jahreskarte in Wien, Schüler*innen können für nur 70€ die öffentlichen Verkehrsmittel in Wien und im Umland nutzen.2Ticketpreise in Wien: https://www.wienerlinien.at/eportal3/ep/channelView.do/pageTypeId/66526/channelId/-46648

Auswirkungen auf den Modal Split in Wien

Der Modal Split gibt an, welcher Anteil an Wegen mit welchem Verkehrsmittel zurückgelegt wird. Dabei belegen die „Öffis“ in Wien halb von Corona-Zeiten seit Jahren einen Wert von etwa 40% (im Vergleich zu 29% in 1993). Dieser Wert hat sich aber seit der Einführung der 365€-Jahreskarte nicht sonderlich verändert (2012: 39%). 3Laut Studie macht nicht 365-Euro-Ticket, sondern das Angebot Wiens Öffis attraktiv: … Continue reading

Es ist ja schön, wenn meine Fahrkarte günstig ist, aber wenn der Bus nur alle 20 Minuten kommt, bringt das auch nichts.

Sprecher der Wiener Linien4Jahresticket 365 Euro: Deutsche Städte mögen Wiener Modell: https://www.tagesspiegel.de/politik/oeffentlicher-nahverkehr-jahresticket-365-euro-deutsche-staedte-moegen-wiener-modell/22751878.html

Was der Sprecher der Wiener Linien anspricht, haben die Wiener Linien auch weitergedacht. So wurde in Wien in den letzten Jahren u.a. der Nahverkehr massiv ausgebaut. Jährlich investiert Wien 400 Millionen Euro in das Netz. Die größten Projekte der letzten Jahre sind dabei:

  • die Verlängerung der U2 in das Neubaugebiet Seestadt Aspern, die weit vor der Fertigstellung des Wohngebiets fertig war, damit die neuen Bewohner*innen dort sich direkt daran gewöhnen können, sowie
  • der Bau der neuen U5.

Aber auch zahlreiche kleine Maßnahmen tragen dazu bei, dass Wien als Musterbeispiel für attraktiven ÖPNV gilt. Und hierin scheint auch der Erfolg der Wiener Linien begründet zu sein. Eine starke Verdichtung des Liniennetzes und des Fahrplantaktes haben erheblich zu den Fahrgastzuwächsen in Wien in den letzten Jahren beigetragen.

Flexity D 301 Linie 67 Fahrtrichtung Otto Probst Platz

(Flexity D 301 by Manfred Helmer (c) bildstrecke.at)

Einen besonderen Wiener Rekord hält ULF. Die Abkürzung steht für „Ultra Low Floor“ und meint Niederflurfahrzeuge in Wien. Diese im gesamten Innenraum stufenfreien Züge haben eine Einstiegshöhe von nur 18 cm (Weltrekord), so dass schon höhere Bordsteine für einen barrierefreien Einstieg genügen. Im Gegensatz zu Bussen braucht es dafür weder ein langsames sorgfältiges Heranfahren, noch Kippen des Wagens oder Ausklappen einer Rampe, geht also einfach und schnell. Für höhere Bahnsteige ist der gesamte Zug höhenverstellbar.

Einer der Elektrobusse, die durch die Wiener Innenstadt fahren. (Bild: Andrew Nash, Vienna Electric Bus April 2013 – 1, als gemeinfrei gekennzeichnet (CC BY-SA 2.0), Details auf Creative Commons)

Die Parkraumbewirtschaftung in Wien trägt aber auch einen entscheidenden Teil dazu bei. So kostet beispielsweise das sog. „Parkpickerl“ für Bewohnende des 1. Wiener Bezirk 10€ pro Monat, also 240€ für zwei Jahre. Die Mehreinnahmen verwendet die Stadt Wien dann wiederum für überwiegend für den Ausbau der ÖPNV. Da überlegt man sich dann insgesamt natürlich mehrmals, ob man nicht lieber auf die Öffis umsteigt.

Dynamische Fahrgastinformation zeigt dicht hinereinader ankommende Busse der Linie 6
Die Echtzeitauskunft zeigt es: Der 10-Minutentakt bei der Linie 6 ist durcheinandergeraten. Der Abstand der einzelnen Busse der Linie 6 verringert sich. Verspätungen und mehrere hinterherfahrende Busse einer Linie sind die Folge (Foto: Bürger Pro Citybahn)

Um sich am Wiener Vorbild zu orientieren, würde es auch in Wiesbaden weitergehende Maßnahmen brauchen, u.a.:

  • eine Neuverteilung des Straßenraums zugunsten des Umweltverbundes, damit Taktverdichtungen nicht im Stau stehen bleiben,
  • eine effektive Parkraumbewirtschaftung , die z.B. das kostenlose Parken im Innenstadtbereich beendet und den knappen Parkraum damit den Kurzzeitparkern, Shoppern und Arztbesuchern bereitstellt
  • eine Steigerung der Kapazität und der Attraktivität der ESWE Verkehr

Hier liefert die CityBahn ein für eine erste Stufe gutes Konzept, das den Nahverkehr in Wiesbaden auf stabilere Beine stellen kann. Vermutlich würden die Bewohner*innen unserer Stadt am Ende dieses Umwandlungsprozesses ähnlich zufrieden sein wie die Bürger*innen Wiens.