Und wieder war es auch hier die beherzte Initiative eines Politikers, die eine Stadt von Grund umgestaltet hat. Der Arzt Miguel Anxo Fernández Lores, seit 21 Jahren Rathauschef der 82.000-Einwohnerstadt Pontevedra in der autonomen Provinz Galicien im Nordwesten Spaniens, nennt sich selbst „Fußgänger Nr. 1“. Denn der Kandidat eines links-grün-galicisch-autonomen Bündnisses, das 1999 überraschend die konservative Dominanz im neoklassizistischen Rathaus durchbrach, hat maßgeblich dafür gesorgt, dass das Zentrum seiner Heimatstadt in eine Oase der Ruhe und der nicht-motorisierten Fortbewegung verwandelt ist. Pontevedra, traditionelle Wallfahrtsstätte für Pilger auf dem Jakobsweg, ist heute ein gern besuchter Vorzeigeort für Stadtergrünung.
Im gesamten Stadtgebiet kamen Mitte der Neunzigerjahre auf rund 70 000 Einwohner fast 50.000 Kraftfahrzeuge, der städtische Fuhrpark eingerechnet. Statistisch stand jedes Auto 95 Prozent der Zeit ungenutzt auf städtischem Grund oder im Stau. 70 Prozent aller Einkäufe im Stadtgebiet wurden per Auto erledigt. In der Innenstadt sorgten 14.000 Autos täglich für Stillstand, die Suche nach einem Parkplatz dauerte mitunter eine Viertelstunde. Die Luft war verpestet, ständig wurde gehupt. Es herrschte eine zunehmend nervöse bis aggressiv geladene Atmosphäre. Wer Wiesbaden kennt, kann sich die Situation damals gut ausmalen.
Nach seinem Wahlsieg setzte Lores keine Planungsgremien ein, ließ keine Positionspapiere oder Prognosen ausarbeiten – er handelte einfach. Auf einen Schlag erklärte er die gesamte Altstadt mit ihren gotischen Kirchen und Renaissance-Häusern zur Fußgängerzone. Dieser Befreiungsschlag ging einher mit einer Umgestaltung der historischen Innenstadt. Sie ist seitdem nicht wiederzuerkennen. Wo sich vorher Stoßstange an Stoßstange reihte, lädt heute eine Bummelzone mit Straßencafés zum Verweilen ein. Es gibt dort weder Fahrbahnmarkierungen noch Unterschiede zwischen Bürgersteig, Fahrradweg und Autopiste. Verkehrszeichen und Ampeln sind gleich mit verbannt. Denn es gilt eine denkbar einfache Grundregel: Fußgänger haben immer Vorfahrt. Dann folgen Radfahrer. Erst danach kommen motorisierte Fahrzeuge zu ihrem Recht.
Die Ladenbesitzer, die anfangs gegen die Einrichtung der autofreien Zone protestiert hatten, beruhigten sich schnell: Entgegen den Befürchtungen stiegen ihre Umsätze – aus einem banalen Grund: Die zeitraubende Parkplatzsuche hatte potenzielle Kunden früher eher abgeschreckt als zum Konsumieren verlockt. Heute schlendern entspannte KäuferInnen zu Fuß an den Auslagen vorbei oder halten mit ihrem Fahrrad direkt vor dem Geschäft ihrer Wahl – und geben mehr Geld aus. Ein Nebeneffekt: Im Gegensatz zu den meisten anderen spanischen Städten wurde das Gros des Einzelhandels nicht von riesigen Supermärkten am Stadtrand aufgesogen.
Und was ist mit den Menschen, die schwere und sperrige Dinge zu verladen, oder es eilig haben? Sie können einfahren, jedoch mit nicht mehr als zehn Stundenkilometern, und an einem der 1000 verbliebenen Parkplätze parken – allerdings nicht länger als 10 Minuten. Parkplätze sind Lade- aber keine Abstellzonen. Das ganze wird von Kameras überwacht und durch fernbediente Poller ergänzt.
Die Verbannung der Autos wurde auch deshalb akzeptiert, da gleichzeitig an den Durchgangsstraßen, die einen großen Bogen um das Zentrum machen, knapp 15 000 Parkplätze eingerichtet wurden. Zwei Drittel sind gratis. Für Autobesitzer, die im Zentrum arbeiten, sind eigene Plätze reserviert. Die anderen Parker kostet die Stunde einen Euro. Zudem verbinden kleine Shuttlebusse die Parkplätze gratis mit den wichtigsten Anlaufpunkten im Zentrum. Deren Dieselmotoren werden nun nach und nach durch Elektro-Antriebe ersetzt. Auch stehen Leihfahrräder zur Verfügung, die sich per App freischalten lassen. Selbst die Hinweistafeln richten sich an den Bedürfnissen der Fußgänger aus und geben fußläufige Entfernungen in Metern und Minuten an.
Das gesamte Stadtbild hat sich verändert: Jeder freie Flecken, auf dem früher Pendler parkten, wurde begrünt, in Sport- und Spielplätze umgewandelt, von Büschen und Bäumen umsäumt, die verbliebenen Autos der Anwohner in neue Tiefgaragen verbannt.
Das Ergebnis der Neubelebung kann sich sehen, aber auch erriechen lassen: Die Kohlendioxid-Emissionen im Zentrum sind um 70 Prozent zurückgegangen. Wurden früher pro Jahr drei bis vier Fußgänger von Autos überfahren-, so waren in den letzten Jahren im Zentrum keine Verkehrstoten mehr zu verzeichnen. Gerade Kinder können sich viel freier und unbefangener bewegen. Die Mamataxis bleiben in der Garage. Seit der Autoverkehr zur Randerscheinung wurde, haben die Eltern keine Angst mehr, ihre Kinder allein auf den Schulweg zu schicken. Die Stadtbewohner erledigen ohnehin die meisten Besorgungen zu Fuß. Ihrer Gesundheit und Fitness ist es sicher nicht abträglich
Pontevedra hat auf diese Weise erheblich an Attraktivität gewonnen: Die zuvor kontinuierlich sinkende Einwohnerzahl nimmt inzwischen stetig zu. Auch für andere Kommunen und Stadtplaner ist die galicische Stadt vom abschreckenden Beispiel zum Vorbild geworden. Doch wer heute die ergrünte Wallfahrtsstätte besucht, sollte darauf eingestellt sein, zu Fuß ins Zentrum pilgern zu müssen.
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- So wurde Pontevedra in Spanien lärmfrei und lebenswert. SWR, 09.07.2019
- So funktioniert eine Stadt ohne Autos. Süddeutsche Zeitung, 21.12.2018