Seit Beginn der 2000er haben in den Vereinigten Staaten von Automerika ein Dutzend Städte neue Straßenbahnsysteme eröffnet -weitere folgen. So eröffnete auch Kansas City (Missouri) 2015 eine neue, rund dreieinhalb Kilometer lange Linie durch das Stadtzentrum – von der Union Station zum River Market. Aber das ist nicht die eigentliche Meldung.
Am 05. Dezember 2019 beschloss der 13-köpfige Stadtrat einstimmig (!), den öffentlichen Nahverkehr gratis zu machen. Damit ist Kansas City die erste US-amerikanische Großstadt, die einen flächendeckend kostenlosen Nahverkehr zur Verfügung stellt – mit hochgradig interessanten Begründungen.
Während die Straßenbahn bereits seit ihrer Eröffnung gratis war, entfallen nun die Fahrpreise im Busnetz der Stadt. Zuvor kosteten Einzelfahrten 1,50 USD, Monatstickets waren für 50 USD erhältlich. Insgesamt neun Millionen USD stellt die Stadt dafür zusätzlich bereit.
Zum Nahverkehr in Kansas City
Auf 80 Buslinien unterhält die städtische KCATA 330 Solobusse – darunter Erdgas-, Hybrid- und seit neuestem auch Elektrobusse. 2005 eröffnete in Kansas City unter dem Markennamen MAX (Metro Area Express) die erste Expressbuslinie – mit durchaus beachtlichem Erfolg. So konnten die Fahrgastzahlen auf den betroffenen Routen binnen der ersten Jahre um 50% gesteigert werden. Auch die Straßenbahn freute sich im Frühjahr 2019 über ihren sechs-Millionsten Fahrgast.
Da jeder Zug mit einer automatischen Zählung versehen ist, gibt der Betreiber die Fahrgastzahlen sogar tagesscharf an – mit interessanten Einblicken. So zeigt der Blick auf die Ist-Auslastung: Am Samstag sind im Schnitt doppelt so viele Menschen mit der Bahn unterwegs wie sonntags oder an Werktagen. Auch sind über die Sommermonate mehr Menschen mit der Bahn unterwegs als im Winter.
Beide Erfolgsgeschichten dürfen allerdings nicht darüber hinweg täuschen, dass die Bedeutung des ÖPNV in Kansas (noch) recht gering ist. So werden die MetroBus-Linien beispielsweise mit einem „zehn-Minuten-Takt mit Solobussen“ beworben. Angesichts von Wiesbadener Linien, die im acht-Minuten-Takt mit Gelenkbussen fahren und dennoch zu voll sind, wird klar: Da ist noch Potenzial.
Interessante Begründungen
Umso wichtiger ist nun das Zeichen, den ÖPNV komplett kostenlos zu gestalten. Während das in anderen Städten angesichts voller Straßen und schlechter Luft auch diskutiert wird, äußern die Stadtratsmitglieder vom Kansas sehr interessante Gründe für ihr Vorgehen. Denn für die Stadt ist kostenloser ÖPNV kein ökologisches Projekt – sondern ein soziales.
When we’re talking about improving people’s lives who are our most vulnerable citizens, I don’t think there’s any question that we need to find that money (…) I believe that people have a right to move about this city.
So argumentiert Stadtrat Eric Bunch: Mobilität in der Stadt sei ein Grundrecht der Einwohner. Von kostenlosem ÖPNV könne die Gemeinschaft drastisch profitieren. Finanziell schwache Einwohner können sich nun leisten, in die Innenstadt oder andere Viertel zu fahren – mit positiven Folgen für das Zusammenleben.
Given the ubiquity of fare-evasion arrests, this is part of what ending mass incarceration looks like: Kansas City moves to make mass transit free.
David Menschel, Strafverteidiger
Zusätzlich, so argumentiert Rechtsanwalt David Menschel, sei gratis ÖPNV ein geeignetes Mittel gegen die Kriminalisierung von Armut. Die Spirale Armut – Schwarzfahren – Gefängnis sei anders kaum zu durchbrechen.
In grüner Hinsicht ist die sonnenverwöhnte Stadt im Breisgau dem Rest der Republik schon immer voraus. Während in den 60er Jahren allerorten die Stilllegung der bestehenden Linien forciert wurde und in Wiesbaden bereits vollzogen war, trieb Freiburg – gleichwohl auch gegen Widerstände vor Ort – Ausbau und Modernisierung seines Straßenbahnnetzes voran. Als die Einrichtung von Fußgängerzonen in Mode kam, verbannte die Stadt zwar den Autoverkehr aus der Gehmeile, nicht aber die Straßenbahn, die die Einheimischen liebevoll Hoobl nennen. Der Platz um den Bertoldsbrunnen in der Fußgängerzone ist bis heute der zentrale Knotenpunkt aller fünf Linien und zeigt anschaulich, wie die umweltfreundlichen Verkehrsteilnehmer sich den öffentlichen Raum einträchtig zu teilen vermögen. Die innerstädtische Streckenführung widerlegt übrigens auch den in Wiesbaden häufig vorgebrachten Einwand, eine Straßenbahn würde nicht in eine gewachsene Altstadt passen.
Ähnlich wegweisend war 1983, als andere Städte sich noch nicht vom Rennen um die autogerechteste Stadt lösen konnten, die Errichtung der Stühlingerbrücke, die einen großen Bogen zwischen zwei Stadtteilen über die Bahntrasse schlägt. Auch sie gehört von Beginn an ausschließlich Straßenbahnen, Radfahrern und Fußgängern, die von hier aus direkt auf die Bahnsteige gelangen. Doch die Stadtbahn geht auch in die Breite. Systematisch wurde das Liniennetz der Stadtbahn auf heute über 46 Kilometer erweitert, das nun auch Umlandgemeindenschnell und bequem mit der Stadt verbindet. 65 Prozent der Freiburger*innen wohnen in der Nähe einer Straßenbahnhaltestelle, Tendenz steigend.
Auch was den Tarif betrifft, war Freiburg Vorreiter. 1984 beschloss der Stadtrat die Einführung der bundesweit ersten „Umweltschutz-Monatskarte“, mit einem Rabatt von einem Drittel. Die dadurch geringeren Einnahmen pro Karte wurden schlagartig wettgemacht durch einen Anstieg der Fahrgastzahlen um zwölf, im Jahr darauf bereits um 23 Prozent, die der Stadtbahn ein sattes Plus bescherten. Das Modell machte daraufhin Schule im ganzen Land. In der Zwischenzeit haben sich die Passagierzahlen der Stadtbahn auf aktuell rund 80 Millionen Fahrten pro Jahr schon beinahe verdreifacht.
Investitionen in die Freiburger Straßenbahn kommen der Stadt also unmittelbar zugute und zahlen sich indirekt auch im Stadtsäckel aus. Zum Erfolg der Stadtbahn trägt sicher auch die stets zukunftsweisende Technik bei. So gehörte Freiburg zu den ersten drei Städten mit Niederflurbahnen. All das hat dazu beigetragen, dass in der Verkehrsnutzung der öffentliche Nahverkehr heute mit dem Anteil der Autoeigennutzung bereits gleichzieht. Wohingegen in Wiesbaden, einer Stadt vergleichbarer Größe, der Nahverkehrsanteil gegenüber dem Autoverkehr gerade einmal etwas mehr als die Hälfte ausmacht.
Die Notwendigkeit
der Verkehrswende wurde vielerorts erkannt. Daher finden an zahlreichen Orten
in Deutschland, Europa und weltweit verschiedene Pilotprojekte, Feldversuche
und auch bereits dauerhafte Maßnahmen, die darauf abzielen, die Mobilität neu
zu organisieren. Weg von einer stark auf das eigene Auto ausgelegten Mobilität,
hin zu einer Mobilität, in der der Umweltverbund die Mehrheit aller Wege
ausmacht.
Was in Wiesbaden die Fußgängerzone in der Wellritzstraße, ist in Hamburg „Ottensen macht Platz“. Dieses Projekt möchten wir euch hier im Rahmen unseres Adventskalenders vorstellen.
„Ottensen macht Platz“
Im Februar dieses Jahres hat die Altonaer Bezirksversammlung aus dem Experiment eines autoarmen Quartiers ein dauerhaftes Verkehrsmodell gemacht, das auch Auswirkungen auf zukünftige verkehrspolitische Maßnahmen in Deutschland drittgrößter Stadt haben kann.
Seit September 2019 lief im 35.5000 Einwohnende zählenden Distrikt Hamburg-Ottensen, ein Teil des Bezirks Altona, die Verkehrsberuhigungsmaßnahme als Modellprojekt. Testweise wurden sechs Monate lang fünf Straßenzüge für den motorisierten Individualverkehr gesperrt. So konnten u.a. die bereits existierende kleine Fußgängerzone in der Ottenser Hauptstraße, der Spritzenplatz und der Alma-Wartenberg-Platz miteinander verbunden werden.
In dieser Versuchszeit galten die Bestimmungen wie in jeder anderen „normalen“ Fußgängerzone: Be- und Entladen war zwischen 23.00 und 11.00 Uhr erlaubt, Taxis und Marktbeschicker dürfen auch einfahren, genauso Autobesitzende mit Sondergenehmigung (z.B. aufgrund eines privaten Stellplatzes oder Schwerbehinderte).1Ottensen macht Platz:https://ottensenmachtplatz.de/ueber-das-projekt/ Ansonsten blieb der Bereich für Autos und Lkws gesperrt.
Für die Anwohnenden im Projektgebiet, die keinen privaten Stellplatz haben, wurden in umliegenden Parkhäusern vergünstigte Konditionen für Dauerstellplätze verhandelt.
Wie findet Ottensen das?
Während zur Halbzeit des Modells im November 2019 Medien aus dem ganzen Land über den Stadtteil und das Modellprojekt berichteten, hielt sich die Akzeptanz vor Ort vordergründig in Grenzen. Einer nicht repräsentativen Umfrage zufolge fanden nur 15% der Befragten den Zwischenstand gut oder sehr gut.2Artikel über Umfrage von FINK.HAMBURG:https://fink.hamburg/2019/10/ottensen-ist-autofrei-das-sagen-die-anwohner-und-ladenbesitzer/ Wenn man sich dann aber zitierte Aussagen von Befragten in der gleichen Umfrage durchliest, fällt auf, dass die mehrheitliche Meinung ein autofreies Ottensen zu befürworten scheint.
Wir haben eher ein positives Gefühl, dass die Leute sehr viel entspannter sind, weil sie Platz haben zum Laufen. […] Du bist halt sehr limitiert vom Platz her und das macht meiner Meinung nach immer schlechte Laune.
Woran sich viele zu stören schienen, war nicht die autofreie Zone an sich, sondern die Art der Umsetzung. So beklagte der Geschäftsführer eines Möbelgeschäfts sich über die triste Gestaltung der Versuchszone.
Natürlich sollen keine fest installierten Sitzinseln für sechs Monate hingestellt werden. Aber man kann zumindest Palmen oder Rhododendren aufstellen.
Es gab auch Gegenstimmen. So klagte der Inhaber einer Textilreinigung in einem SPIEGEL-Bericht über Umsatzeinbußen. Eine Anwohnerin gründete sogar eine Bürgerinitiative, um „Ottensen macht Platz“ und die Autofreiheit des Projektgebiets teilweise zurückzudrehen, weil laut ihrer Aussage Anwohnende und Gewerbetreibende unnötig eingeschränkt würden.
Im Vergleich zur Wellritzstraße
Wie schon anfangs erwähnt, drängen sich die Vergleiche zum Versuchsprojekt in der Wellritzstraße zwischen Helenenstraße und Hellmundstraße auf. Doch gibt es ein paar entscheidende Unterschiede.
Die Fußgängerzone in der Wellritzstraße ist deutlich kürzer als das Projekt in Ottensen. Es beschränkt sich auf einen Abschnitt von ca. 120 Metern, während in Hamburg gleich fünf Straßenzüge von insgesamt ca. 760 Metern gesperrt wurden. Das hat natürlich eine größere Anzahl an Betroffenen (Anwohnende, Geschäftstreibende etc.) zur Folge.
Angesiedeltes Gewerbe
Im Versuchsgebiet in Hamburg-Ottensen ist die Gewerbestruktur eine völlig andere als in der Wellritzstraße. Wie bereits erwähnt gibt es dort eine Textilreinigung, aber auch Kleiderläden, eine Buchhandlung sowie Restaurants und Cafés. In der Wellritzstraße befinden sich vor allem Gastronomie, zwei Handyshops sowie der Wellritzhof.
Während der Probephase wurde das Projekt von der TU Hamburg-Harburg wissenschaftlich begleitet. Verkehrszählungen, eine schriftliche Befragung der Anwohnenden und Passantenbefragungen wurden ausgewertet und die Ergebnisse am Ende des Projekts der Öffentlichkeit vorgestellt. Die Auswertung ist mit in die Entscheidung der Bezirksversammlung eingeflossen. Während das Vorhaben Fußgängerzone Wellritzstraße immer nur etappenweise verlängert wird, erwägen die Verantwortlichen in Ottensen, die Straßenzüge auch durch Umbauten dauerhaft vom Autoverkehr zu entwöhnen.
Wie im Autoscooter, so sieht der Alltag auf den Straßen aus.
Quietschende Reifen, Stillstand, Gedränge, Kampf um die Vormacht, Autofahrer
gegen Radfahrer, Radfahrer gegen Fußgänger… Die Stadt Groningen in den
Niederlanden macht vor, wie es anders aussehen kann: Auch ohne breite Straßen
kommen sich die Verkehrsteilnehmer kaum in die Quere.
Dabei zog sich auch durch die 200.000-Einwohner-Stadt im
Nordosten der Niederlande, 75 km vom ostfriesischen Leer entfernt, einst die übliche
Blechlawine. Bis 1977, als vorausschauende Stadtplaner diesen Zustand nicht nur
beklagten, sondern umwälzende Entscheidungen in die Tat umsetzten. Sie ließen
den motorisierten Verkehr schlicht nicht mehr durch die Stadtmitte. Die wurde
stattdessen in vier Sektoren unterteilt, die mit dem Auto jeweils nur über
Sackgasseneinfahrten zu erreichen sind. Um von einem dieser Quartiere ins
Nachbarareal zu gelangen, ist es daher notwendig, jeweils auf die vierspurige
Ringstraße um das Zentrum zurückzufahren und dort entlang zu kreisen, bis die
passende Einfahrt kommt.
Diese Einschränkung führte dazu, dass die Innenstadt vom
motorisierten Durchgangsverkehr mit seinen Beigaben wie Lärm, Abgasen, Stau
entlastet ist. Zugleich ist der umweltfreundliche Transit per Rad oder Bus
privilegiert. Wer nicht mit dem PKW unterwegs ist, darf sich ungehindert durch
die Innenstadt bewegen. Auf diese Weise wird die notorische Benachteiligung der
schwächsten Verkehrsteilnehmer auf begrenztem Raum in das Gegenteil verkehrt.
Während Autos in der Regel länger brauchen, um auf Umwegen ihr Ziel zu
erreichen, haben Radfahrer freie Fahrt auf direkten Weg und die Fußgänger mehr
Raum zur Verfügung.
Im Ergebnis schnellte der Anteil von Pedalen an den Fortbewegungsantrieben in Höhe. Heute wird jede zweite Strecke in Groningen auf zwei Rädern zurückgelegt, in der Innenstadt sind es sogar 60 Prozent. Kein Wunder: Das Velo ist dort das mit Abstand schnellste und günstigste Verkehrsmittel. Auch die Verknüpfung mit einem effizienten Nahverkehr, das öffentliche Verleihsystem, gut über die Stadt verteilte Abstellmöglichkeiten und die Einführung von Cargo-Lieferungen machten Groningen zur eigentlichen Fahrradhauptstadt. 1Zukunft Mobilität, 10. Oktober 2013, Martin Randelhoff: „Groningen: Die wahre Fahrradhauptstadt“. … Continue reading
Wenig überraschend, verlief die konsequente Umgestaltung des
Verkehrssystems auch hier nicht ohne Widerstände. Insbesondere der Einzelhandel
fürchtete ohne ungehinderte Zufahrtsmöglichkeit für motorisierte Kunden Umsatzeinbußen.
Doch diese Sorge erwies sich als unbegründet, das Gegenteil trat ein. Das
entspannte Einkaufserlebnis und die bessere Erkennbarkeit des Angebots aus
Radfahrer- oder Fußgängerblickwinkel sorgte für größeren Zulauf.
Natürlich lässt sich solche Verkehrspolitik nur mit Verboten realisieren. Die Autorouten sind reglementiert, anders wäre Chaos programmiert. Dennoch ist den Planern sehr an Wahlfreiheit für die StadtbewohnerInnen gelegen. „Es geht uns darum,“ sagt der Groninger Rad- und Fußverkehrskoordinator Jaap Valkema2Zeit Online, 12. Mai 2018, Mark Spörrle: „Beim Radfahren haben wir schon eine etwas andere Haltung“. Interview mit dem Rad- und Fußverkehrskoordinator Jaap Valkema aus Groningen. … Continue reading, „dass sich die Leute je nach Route bewusst entscheiden, ob sie das Auto, den Bus oder das Fahrrad nehmen. Führt ihr Weg durch einen Park oder ein Wohngebiet, nehmen sie eher das Rad, weil sie dort viel angenehmer fahren können. Wer die Hauptverkehrsstraße entlangmuss, entscheidet sich eher für das Auto.“
Trotz rigoroser Eingriffe war den Reformern stets das
Einvernehmen mit den BürgerInnen wichtig. „Wir versuchen das Augenmerk darauf
zu lenken, was man dadurch gewinnt, wenn man woanders etwas einschränkt“,
beschreibt Koordinator Valkema. „Vor einigen Jahren haben wir zum Beispiel
angefangen, die Zahl der Busse in der Innenstadt zu verringern. Den Platz auf
der Straße, den wir damit gewonnen haben, wissen die Bürger schon zu schätzen.
Oft bestätigt sich auch gar nicht, was die Leute befürchten. Die Innenstadt hat
für die Leute viel mehr Aufenthaltsqualität bekommen. Jetzt heißt es sogar: Die
Stadt geht nicht weit genug, es sind immer noch zu viele Autos da!“
Dass sich im Stadtgebiet die Mehrheit für das Fahrrad entscheidet, hat sicher auch mit dem hohen Anteil von Studierenden, mit 50.000 ein Viertel der Gesamtbevölkerung, zu tun, die den Stadtverantwortlichen den Umstieg erleichtert haben. Doch der Erfolg wird nun stellenweise bereits zum Problem. In den Fahrradschneisen herrscht oft genug so dichtes Gedränge, dass Alternativrouten empfohlen werden. Die Abstellflächen um den Bahnhof sind im Semester hoffnungslos überfüllt, und manche Geschäfte sind von Rädern derart zugeparkt, dass ein Durchkommen kaum noch möglich ist. Manche Ladenbesitzer fürchten bereits, dass radfahrende KundInnen auf Abwege umgeleitet werden. Solche Sorgen würden KollegInnen in anderen Städten herbeisehnen.
Zukunft Mobilität, 10. Oktober 2013, Martin Randelhoff: „Groningen: Die wahre Fahrradhauptstadt“. https://www.zukunft-mobilitaet.net/34091/urbane-mobilitaet/groningen-niederlande-radverkehr-dokumentation/
Barcelona, Berlin, Biebrich? Vor gut zwei Jahren wurden in Barcelona die ersten Superblocks umgesetzt. Am 30. Oktober letzten Jahres hatte die Bezirksverordnetenversammlung Friedrichshain-Kreuzberg (Berlin) für die Einführung des ersten Superblocks in Berlin gestimmt – doch die Umsetzung lässt in diesem coronagehandicapten Jahr noch immer auf sich warten.
Die simple Idee stammt aus Barcelona: Die Wohnviertel vom Durchgangsverkehr befreien und so Platz für die Anwohner zu schaffen – zum Aufenthalt, zum Leben, für Gastronomie, Grün, Rad und Fußverkehr.
Dabei hilft das schachbrettartige Layout der Stadt ungemein. Statt Verkehr auf allen Straßen zuzulassen, werden mehrere Wohnblocks zu einem Superblock zusammengefasst. Die inneren Straßen werden zu Fußgängerzonen – Notfallfahrzeuge kommen weiterhin rein, per Zugangskontrollen ebenso die Anwohner. Durchgangsverkehr muss draußen bleiben. Für den Lieferverkehr werden wohldefinierte Parkplätze vor- und freigehalten.
Ganz so radikal wie in Barcelona dürfte der Superblock im Berliner Bergmannkiez zwar nicht ausfallen – denn Fahrten mit dem PKW werden weiter möglich. Allerdings soll die Verkehrsführung angepasst werden. Autos, die von einer Hauptstraße in das Viertel einbiegen, werden so geleitet, dass sie auf derselben Hauptstraße wieder rauskommen. Parken, Be- und Entladen soll damit weiter möglich sein – Durchfahren aber nicht. Für die schnellen Radfahrer (also den Rad-Transitverkehr) sollen auf den umgebenden Hauptstraßen Radwege entstehen – und diese damit aus dem Viertel ebenfalls raushalten.
Der Bergmannkiez ist mit einer Fläche von knapp 60 Hektar in etwa so groß wie das historische Fünfeck in Wiesbaden. Dem Beschluss voraus war die Anwohnerinitiative „Bergmannkiez für Menschen statt für Durchgangsverkehr.“ gegangen. Sie hatten in einer Umfrage die Zustimmung der Mehrheit der Anwohner*innen erhalten. Mittlerweile heißt es aus der zuständigen Bezirksverwaltung nur noch zurückhaltend, die Ergebnisse der Befragung würden von der „Fachabteilung bearbeitet.“
Gut möglich, dass auf diese Weise ein Straßenzug im nördlich gelegenen Waldseeviertel das Rennen macht. Die Bezirksverwaltung Reinickendorf empfahl dem Bezirksamt ohne Gegenstimmen, „temporäre Modalfilter“ – im Volksmund auch Blumenkübel genannt – zu installieren.
Derart einfache Maßnahmen sollten könnten auch in geeigneten Bereichen in Wiesbaden untersucht werden – denn auch hier leiden Anwohner vielerorts unter dem Durchgangsverkehr.
Zum 1. Mai 2012 wurde in Wien als erster Stadt überhaupt das 365€-Ticket von der rot-grünen Wiener Regierung eingeführt. Die Wiener Grünen hatten sogar eine Jahreskarte für nur 100€ zunächst gefordert. Auch so erbrachte das 365€-Ticket eine Preisreduktion von 85€.1Wiener Linien: Die Jahreskarte um 1 Euro pro Tag: https://www.diepresse.com/682709/wiener-linien-die-jahreskarte-um-1-euro-pro-tag Die Ticketpreise wurden seither nicht erhöht.
Damit bietet Wien eine im Vergleich zu anderen Städten ausgesprochen günstige Jahreskarte für Erwachsene an:
Der Modal Split gibt an, welcher Anteil an Wegen mit welchem Verkehrsmittel zurückgelegt wird. Dabei belegen die „Öffis“ in Wien halb von Corona-Zeiten seit Jahren einen Wert von etwa 40% (im Vergleich zu 29% in 1993). Dieser Wert hat sich aber seit der Einführung der 365€-Jahreskarte nicht sonderlich verändert (2012: 39%). 3Laut Studie macht nicht 365-Euro-Ticket, sondern das Angebot Wiens Öffis attraktiv: … Continue reading
Es ist ja schön, wenn meine Fahrkarte günstig ist, aber wenn der Bus nur alle 20 Minuten kommt, bringt das auch nichts.
Was der Sprecher der Wiener Linien anspricht, haben die Wiener Linien auch weitergedacht. So wurde in Wien in den letzten Jahren u.a. der Nahverkehr massiv ausgebaut. Jährlich investiert Wien 400 Millionen Euro in das Netz. Die größten Projekte der letzten Jahre sind dabei:
die Verlängerung der U2 in das Neubaugebiet Seestadt Aspern, die weit vor der Fertigstellung des Wohngebiets fertig war, damit die neuen Bewohner*innen dort sich direkt daran gewöhnen können, sowie
der Bau der neuen U5.
Aber auch zahlreiche kleine Maßnahmen tragen dazu bei, dass Wien als Musterbeispiel für attraktiven ÖPNV gilt. Und hierin scheint auch der Erfolg der Wiener Linien begründet zu sein. Eine starke Verdichtung des Liniennetzes und des Fahrplantaktes haben erheblich zu den Fahrgastzuwächsen in Wien in den letzten Jahren beigetragen.
Einen besonderen Wiener Rekord hält ULF. Die Abkürzung steht für „Ultra Low Floor“ und meint Niederflurfahrzeuge in Wien. Diese im gesamten Innenraum stufenfreien Züge haben eine Einstiegshöhe von nur 18 cm (Weltrekord), so dass schon höhere Bordsteine für einen barrierefreien Einstieg genügen. Im Gegensatz zu Bussen braucht es dafür weder ein langsames sorgfältiges Heranfahren, noch Kippen des Wagens oder Ausklappen einer Rampe, geht also einfach und schnell. Für höhere Bahnsteige ist der gesamte Zug höhenverstellbar.
Die Parkraumbewirtschaftung in Wien trägt aber auch einen entscheidenden Teil dazu bei. So kostet beispielsweise das sog. „Parkpickerl“ für Bewohnende des 1. Wiener Bezirk 10€ pro Monat, also 240€ für zwei Jahre. Die Mehreinnahmen verwendet die Stadt Wien dann wiederum für überwiegend für den Ausbau der ÖPNV. Da überlegt man sich dann insgesamt natürlich mehrmals, ob man nicht lieber auf die Öffis umsteigt.
Um sich am Wiener Vorbild zu orientieren, würde es auch in Wiesbaden weitergehende Maßnahmen brauchen, u.a.:
eine Neuverteilung des Straßenraums zugunsten des Umweltverbundes, damit Taktverdichtungen nicht im Stau stehen bleiben,
eine effektive Parkraumbewirtschaftung , die z.B. das kostenlose Parken im Innenstadtbereich beendet und den knappen Parkraum damit den Kurzzeitparkern, Shoppern und Arztbesuchern bereitstellt
eine Steigerung der Kapazität und der Attraktivität der ESWE Verkehr
Hier liefert die CityBahn ein für eine erste Stufe gutes Konzept, das den Nahverkehr in Wiesbaden auf stabilere Beine stellen kann. Vermutlich würden die Bewohner*innen unserer Stadt am Ende dieses Umwandlungsprozesses ähnlich zufrieden sein wie die Bürger*innen Wiens.
Auch der öffentliche Nahverkehr in Mannheim zeichnet sich neben seiner bemerkenswerten Leistungsfähigkeit auch durch Mut zum Experimentieren aus. Mitte der 1970er Jahre verkehrte mit dem Aerobus ein Zwitter zwischen Bus und Seilbahn. In den 90ern wurde eine Strecke auf Spurbusse umgerüstet – also handelsübliche Busse, die durch zusätzliche, seitliche Rollen spurgeführt wurden. 2015 fuhren die ersten Akkubusse, geladen durch Induktion. All diese Ideen sind mittlerweile Geschichte. Eines blieb: Die Straßenbahn.
Das gemeinsam betriebene Straßenbahnnetz von Mannheim, Ludwigshafen und Heidelberg bringt es auf 25 Linien, 299 Kilometer Strecke, 190 Züge und eine halbe Million Fahrgäste – jeden Tag. Tendenz in allen Bereichen steigend. Neue Linien, neue Haltestellen, neue Fahrzeuge, neue Fahrgäste.
Hingucker in Mannheim ist die Fußgängerzone – die Planken. Im Zentrum der Innenstadt – der Quadrate – gelegen, bildet die Zone gleichzeitig die Shoppingadresse schlechthin. 1975 wurden die Planken zur Fußgängerzone. Obwohl der Einzelhandel Bedenken äußerte, dass weniger Autos gleich weniger Kunden bedeuten, beteiligen sich Handel und IHK konstruktiv an der Ausgestaltung der Planken und steuern freiwillig mehr als eine Million DM bei. Bereits ein halbes Jahr vor der Eröffnung werden die ersten, neuen Bäume gepflanzt – die Zone in den folgenden Jahrzehnten immer wieder erweitert (z.B. 1977, 1979, 2007, 2016).
Heute teilen sich Fußgänger, Radfahrer und acht Straßenbahnlinien die Fußgängerzone. Zentraler Umsteigeort der Bahnen ist gleichzeitig der Kern der Shoppingmeilen: Der Paradeplatz. Gleichzeitig fährt in den Quadraten kein einziger Linienbus – die Bahnen leisten hier alle Arbeit.
Auf den autofreien Straßen floriert der Einzelhandel. Beispiel Zentralitätskennziffer: Sie gibt an, wie stark der örtliche Einzelhandel überregionale Kunden anzieht. Ein Wert von 100 zeichnet ein ausgeglichenes Bild: Im Handel vor Ort wird genauso viel Geld ausgegeben, wie die Einwohner zur Verfügung haben. Bei Werten unter 100 gehen die Einheimischen auswärts shoppen, Orte mit Werten über 100 ziehen auswärtige Kunden an.
Mannheim belegt hier mit >150 den bundesweiten Spitzenplatz aller Städte über 200.000 Einwohner. Vereinfacht: In Mannheim setzt der Einzelhandel 50% mehr Geld um, als die Mannheimer Einwohner zur Verfügung haben. Die Stadt zieht also massiv Einkäufer aus dem Umland an. (Zum Vergleich: Mainz liegt bei 109, Wiesbaden bei knapp 112). Auf dem Mannheimer Marktplatz gibt es nicht nur rege besuchte Wochenmärkte – sondern auch einen großen Supermarkt. Und das ohne einen einigen Parkplatz, dafür aber mit Straßenbahnhaltestelle vor der Haustür.
Neben der massiven Erweiterung des Straßenbahnnetzes verfolgt die Stadt Mannheim nun auch das Ziel, den Lieferverkehr aus der Fußgängerzone rauszuhalten. Dazu wurden designierte Lieferzonen eingerichtet – die Lieferfahrzeuge halten nicht mehr in der Fußgängerzone direkt, sondern auf Parallel- oder Seitenstraßen. Die letzten Meter werden dann per Sackkarre oder Lastenameise zurückgelegt werden. Poller und erhöhte Polizeipräsenz sorgen hier für die Umsetzung.
Curitiba, 1654 als Goldgräberlager gegründet und seit 1854 die Hauptstadt des Staates Paraná im Südosten Brasiliens, boomt. Die südbrasilianische Metropole wächst und wächst, beinahe explosionsartig. Ihre Einwohnerzahl schnellte seit Mitte des vergangenen Jahrhunderts von 180.000 auf heute knapp 2 Millionen hoch, das ebenfalls expandierende Umland nicht mitgerechnet.
Dieser weltweit zu beobachtende Sog der Ballungsräume zieht
üblicherweise Probleme wie Slumbildung, Verkehrschaos, Luft- und
Wasserverschmutzung sowie die Zerstörung natürlicher Ruheräume mit sich. Ohne
Rücksicht auf die Umwelt, versuchen die Verantwortlichen meist etwas hilflos
die wachsende Autoflut mit Schnellstraßen, komplizierten Ampelsteuerungen und
Parkhäusern zu kanalisieren. Das Auto wird zum heimlichen Chefplaner, bestimmt
die Straßenführung, beeinflusst die Lage von Wohngebieten, Geschäftsvierteln,
Gewerbe- und Industriezonen und prägt sogar das soziale Gefüge.
Nicht so in Curitiba. Trotz der für die Region typischen
Armut und Finanzschwäche weist die Millionenstadt eine viel geringere
Umweltverschmutzung, eine etwas niedrigere Kriminalitätsrate und ein höheres
allgemeines Bildungsniveau auf. Woran liegt das?
Die Stadtplaner unter dem vorausschauenden Bürgermeister
Jaime Lerner, einem Architekten und Raumplaner, bis 1992 an der Stadtspitze, haben
sich über eingefahrene Stereotypen hinweggesetzt und modellhaft vorgeführt, wie
sich mit einfachen, umweltkonformen Maßnahmen die Probleme eines rasch
expandierenden Gemeinwesens besser lösen lassen als mit aufwendiger Technik.
Eine fortschrittliche Verwaltung räumt dem öffentlichen Nahverkehr Vorrang vor
dem Individualverkehr ein, bezieht die Umwelt ein statt sie auszugrenzen,
beteiligt die Bürger an der Stadtplanung statt diese von oben auf dem Reißbrett
zu verfügen.
Es begann mit Vorkehrungen vor Überflutungen. Die Uferzonen
der fünf saisonal anschwellenden Flüsse wurden von jeder Besiedlung
freigeräumt, stattdessen Parkflächen angelegt und nicht weniger als eine
Million Bäume gepflanzt. Wo heute der Botanische Garten liegt, dümpelte früher
eine stinkende Müllhalde vor sich hin. Auch nicht mehr benutzbare Fabrikgebäude
und Bauten in den Überschwemmungsgebieten wurden zu Sport- und Freizeitanlagen
umgebaut. Buslinien und Radwege verbinden diese Grünzonen mit dem
innerstädtischen Verkehrssystem.
Wohl der augenfälligste Unterschied zu anderen Städten: Es gibt
kein abgezirkeltes Zentrum, in das überfüllte Schnellstraßen münden – mit dem
üblichen durch Auto-Pendler verursachten Verkehrsinfarkt. Curitiba dagegen
förderte während der siebziger Jahre ein sternförmiges Wachstum entlang
festgelegter Achsen. Zugleich sorgte es durch die Entwicklung von
Massentransportmitteln für gute Verbindungen zwischen Wohngebieten,
Geschäftsvierteln und Arbeitsstätten. Dieses Straßennetz und das öffentliche
Verkehrssystem haben das Stadtbild entscheidend geprägt.
Auf den Mittelstreifen der fünf Hauptachsen haben
Schnellbusse freie Fahrt. Beiderseits sind schmale lokale Straßen zur Anbindung
der bebauten Areale angelegt. Einen Block weiter verläuft jeweils eine breite
Einbahnstraße, die auf der einen Seite in die City hinein und auf der anderen
aus ihr heraus führt. Ergänzend zu den Schnellbuslinien gibt es lokale Busse
und solche, die zwischen den Stadtteilen verkehren; hinzu kommen Zubringer in
den Außenbezirken. Große Terminals an den Enden der Trassen sowie mittelgroße
überdachte Haltestellen im Abstand von etwa zwei Kilometern erleichtern das
Umsteigen auf andere Linien, deren Benutzung im Fahrpreis inbegriffen ist.
Durch gesetzliche Regelung der Flächennutzung unmittelbar
neben den Hauptachsen ließ sich eine dichte Besiedlung erreichen, die Geschäfte
und Dienstleistungsbetriebe einschließt. Die Stadt unterstützt dieses
Wachstumsmuster mit einem öffentlichen Transportsystem, das auf Bequemlichkeit
und Schnelligkeit ausgerichtet ist. Der öffentliche Personentransport ebenso
wie Fußgänger genießen Priorität vor privaten Kraftfahrzeugen. Radwege und
Fußgängerbereiche sind fester Bestandteil des Verkehrsnetzes, während
andernorts großangelegte Straßenbauprogramme nur noch größere Blechlawinen,
Staus, Parkplatznöte und Luftverschmutzung verursacht haben.
Trotz des effizienten und komfortablen Vorankommens geben
die Bewohner Curitibas im Durchschnitt nur rund 10 Prozent ihres geringen
Einkommens für Beförderungszwecke aus – für Brasilien ist das relativ wenig. Allerdings
ist auch hier der Kampf gegen das Statussymbol Auto nicht zu gewinnen. Die Zahl
der Privatautos pro Kopf liegt in Curitiba sogar noch über dem Landesdurchschnitt.
Allerdings für den Weg zur Arbeit nehmen drei Viertel aller Pendler den Bus –
was einem täglichen Fahrgastaufkommen von über 1,3 Millionen entspricht. Dank
großer Nachfrage und effizienter Nutzung vermag das öffentliche
Nahverkehrssystem sich selbst zu tragen. Zugleich ist der Benzinverbrauch pro
Kopf der Bevölkerung um 25 Prozent geringer als in vergleichbaren Städten
Brasiliens. Entsprechend hat Curitiba mit die sauberste Luft im Land.
Die Stadtverwaltung hat früh gelernt, dass sinnvolle
Planungen allein nicht ausreichen. Am Anfang standen eine Vision und ein
Grundkonzept für die künftige Stadtentwicklung. Umgesetzt wurde es jedoch nicht
durch das bürokratische Verordnen eines Maßnahmenkatalogs, sondern mittels
Einbindung der Bürger und Anreizen zur Beteiligung.
Dazu gehört insbesondere ein öffentliches Informationssystem, das unmittelbar Auskunft über Bodennutzungs- und Bebauungsmöglichkeiten für jedes beliebige Grundstück gibt. Wer eine Betriebs- oder Erneuerungsgenehmigung erhalten will, muss angeben, welche Auswirkungen auf den Verkehr und städtische Belange zu erwarten sind. Die schnelle Verfügbarkeit dieser Informationen wirkt der Bodenspekulation entgegen; die Angaben sind aber ebenso wichtig für den Entwurf des Haushaltsplans, da Grundsteuern die Haupteinnahmequelle der Stadt bilden.
Statt die Polizeipräsenz zu erhöhen, hat Curitiba das
Konzept der 24-Stunden-Straße entwickelt: einer Passage mit Restaurants und
Geschäften, die Tag und Nacht geöffnet sind. Ein voller Erfolg. Während andere
Großstadtzentren nach Feierabend veröden oder zu Brutstätten von Kriminalität
werden, lädt Curitiba als weltoffene, pulsierende Stadt zum Verweilen ein.
Erwünschtes Verhalten wird auch sonst gefördert. Eigentümer
von Grundstücken in der Altstadt können ihr Bebauungsrecht auch in anderen
Stadtteilen ausüben. So wird die historische Bausubstanz erhalten, während die Besitzer
fairen Ersatz bekommen. Bis in den privaten Bereich zielen Anreize zu
Gemeinsinn. Curitibas Freie Umweltuniversität bietet Hausgehilfen, Polieren,
Ladenbesitzern und anderen kostenlose Kompaktkurse, um sie über die
ökologischen Auswirkungen selbst der einfachsten alltäglichen Verrichtungen zu
unterrichten. Die von geschulten Fachkräften abgehaltenen Lehrgänge sind
Voraussetzung für die Arbeitserlaubnis in einigen Berufen wie Taxifahren, aber
viele Interessenten besuchen sie freiwillig.
Die Stadt sorgt auch dafür, dass weniger Abfälle entstehen und der Rest wirksam beseitigt wird. Die Bürger recyceln täglich eine Papiermenge, die über tausend Bäumen entspricht. Die Initiative „Müll ist nicht gleich Müll“ hat mehr als 70 Prozent der Haushalte dazu gebracht, wiederverwendbares Material sammelgerecht zu sortieren. Das Müll-Abkauf-Programm für Gebiete mit armer Bevölkerung hilft, Stadtbereiche sauber zu halten, die konventionell schwierig zu entsorgen wären: Schon seit den 90er Jahren könnten Familien aus sozial schwachen Vierteln tonnenweise Müll in Nahrungsmittel oder Bus-Gutscheine eintauschen. Im Rahmen der Aktion „Alles sauber!“ werden überdies zeitweilig Arbeitslose und Rentner angestellt, um Schmuddelecken aufzuräumen. So werden nicht nur Ressourcen geschont und Beschäftigungsmöglichkeiten geschaffen. Die Stadt ist noch mal schöner geworden.
Straßenbahnen verbinden, auch über Grenzen hinweg. Seit 2017 kann man von Kehl (rund 35.700 Einwohner) im Westen Baden-Württembergs über den Rhein direkt ins Zentrum von Straßburg (rund 277.000 Einwohner) fahren.
Letztes Jahr pünktlich zu Beginn des Weihnachtsmarktes in der elsässischen Metropole, die sich selbst als Weihnachtshauptstadt („Capitale de Noël“) bezeichnet, wurde die Strecke dieses Jahr von der bisherigen Endstelle am Kehler Bahnhof bis zum Rathaus in der Stadtmitte verlängert. Montag bis Freitag nutzten zwischen 4.000 – 5.500 Fahrgäste täglich die neue Verbindung. Schon im ersten Monat verdoppelten sich die Fahrgastzahlen gegenüber der vorher bestehenden Busanbindung. So hat die Straßenbahnanbindung Kehls vor Beginn der Corona-Pandemie auch zur Belebung des dortigen Einzelhandels beigetragen, da viele Straßburger wegen der günstigen Einkaufsmöglichkeiten nach Kehl kammen. Auch die Wirtschaft profitiert von der neuen Linie. Während Arbeitsplätze in Straßburg rar sind, gibt es in Kehl und dem angrenzenden Ortenaukreis einen Arbeitskräftemangel. Durch die auch für Pendler attraktive Straßenbahnverbindung konnten viele dieser Stellen besetzt werden.
Eine Straßenbahnverbindung zwischen Kehl und Straßburg bestand schon einmal. Die politische Situation zwischen Deutschland und Frankreich nach dem ersten Weltkrieg beendete aber den Betrieb der 1898 eröffneten Straßenbahnverbindung. Das endgültige Aus kam dann 1944, als die Brücke zwischen Straßburg und Kehl gesprengt wurde. Aber auch in Straßburg endete 1960 der Straßenbahnbetrieb. Dem damaligen Trend folgend kaufte man lieber neue Busse, als in die Straßenbahn zu investieren. In den folgenden Jahren wurde der zunehmende Individualverkehr und die sich damit verschlechternde Luftqualität aber immer mehr zum Problem. Ein leistungsfähiges und attraktives Verkehrsmittel musste her. Nachdem sich eine automatisch betriebene U-Bahn als zu teuer erwies, fasste das Stadtparlament von Straßburg 1989 den Grundsatzbeschluss zur Wiedereinführung der Straßenbahn. Fünf Jahre später konnte bereits die erste Linie eröffnet werden. Heute bilden die sechs Straßenbahnlinien die Hauptachsen des ÖPNV-Angebots, das durch 28 Buslinien ergänzt wird.
Nach Nantes und Grenoble war Straßburg die dritte französische Stadt, die nach Stilllegung die Straßenbahn wieder einführte. Seitdem folgten 21 französische Städte ihrem Vorbild. Mit der alten Tram hat die neue Straßenbahn aber nicht mehr viel gemein. Denn man nutzte nicht nur den technischen Fortschritt, sondern legte auch viel Wert auf gutes Design und eine optimale Einbindung in das Stadtbild. Wo früher Asphalt dominierte, wurde der Straßenraum neu aufgeteilt und Platz für die auf Rasengleis verkehrende Straßenbahn und neue Bäume geschaffen. Fast ohne Werbung und in eleganter Lackierung in weiß, braun- und grünmetallic sind die modernen Bahnen ohne Stufen heute aus dem Stadtbild nicht mehr wegzudenken.
Was für manchen notorischen Autofahrer einer schauderhaften
Schreckensvision gleichkommt – in Wiesbadens Partnerstadt ist dies seit Jahren –
im Wortsinn – gängige Praxis. Im gesamten Altstadtkern der slowenischen
Hauptstadt Ljubljana dröhnt kein Verbrennungsmotor. Seit 2007 sind die Gassen rund
um den Fluss Ljubljanica vollkommen autofrei. Mobilität findet hier zu Fuß, mit
dem Fahrrad oder, wer Bedarf hat, kostenfrei auf einem der gemächlich
zirkulierenden Elektrokarren, Marke „Kavalier“, statt.
Sind die zentralen Einkaufsstraßen seitdem verödet? Die Konsumenten
in die Außenbezirke ausgewichen? Der Anschein ist ein anderer. Die Geschäfte im
Stadtzentrum erscheinen gut besucht, tote Schaufenster sind nicht zu erkennen. Ein
Restaurant, Café oder Lokal reiht sich in dichter Folge an das andere. Sie
nehmen sich dabei nicht gegenseitig die Gäste weg, im Gegenteil: für jeden
Bedarf gibt es den passenden Ort. Sicher ist das zu einem guten Teil dem studentischen
Milieu und dem florierenden Tourismus zu verdanken. Aber Besucher zieht es
schließlich nicht ohne Grund in spürbar entspannte Gefilde. Zudem finden sie
dort nicht nur Souvenirs, sondern auch Lebensmittel, Drogeriewaren, Kleidung
und Bücher Absatz. Einkaufen macht ganz offenkundig mehr Spaß ohne Gefahr,
Gehetze und Lärm.
Wo sich früher ein qualmender Autopulk durch romantisch
anmutende Gassen wälzte, laden neugestaltete Promenaden zum Flanieren,
ganzjährig geöffnete Außenterrassen zum Verweilen ein. Der einst größte Parkplatz
der Innenstadt beherbergt heute Bühnen, Freiluftkinos oder Marktstände. Die
Anwohner können ihre Fahrzeuge unterirdisch abstellen. Doch die einstige Blechflut
wird nicht einfach um eine autofreie Oase herumgeleitet. Während die Altstadt
zur Fußgängerzone wurde, machten sich die Stadtgestalter bereits an die
Verkehrsberuhigung der Innenstadt und kappten dabei auch die schon von den
Römern angelegte, frühere Hauptverkehrsader. Hier haben nun Busse, Räder und
Füße Vorrang. Insbesondere für RadfahrerInnen ist die slowenische Hauptstadt
mit hunderten von eigenen Fahrspuren und einem flächendeckenden Verleihsystem
ein Paradies. Unter den 20 fahrradfreundlichsten Städten der Welt rangiert sie
zeitweise auf Platz 8.
Natürlich erntete die einschneidende
Umgestaltung einer legendären Verkehrshölle zum stadtplanerischen
Vorzeigeprojekt nicht bei allen 280.000 BewohnerInnen auf Anhieb Beifall. Viele
Widerstände waren zu überwinden, die oft aus der Macht jahrzehntealter
Gewohnheiten resultierten.
Der verantwortliche Stadtplaner Janez Kozelj wählte dabei nicht den Weg langwieriger Diskussionen und Bürgerbefragungen, ein besonderer Umstand kam ihm zugute. Bauzäune, um die der übliche Verkehrsfluss zwei Jahre lang geleitet werden musste, gewöhnten die Einheimischen behutsam an eine neue Straßenführung. „Eine Baustelle ist leichter zu verkaufen als eine Begegnungszone“, erklärte der Architekturprofessor unumwunden. Irgendwann kannten die Verkehrsteilnehmer es nicht mehr anders und hatten sich damit arrangiert, inzwischen auch mit der lärm-, stress- abgas- und risikoarmen Fortbewegung angefreundet.
So bevorzugten die Verantwortlichen geschaffene Tatsachen,
die die meisten Skeptiker überzeugten. Und die Verkehrswende kam mit
Siebenmeilenstiefeln nach Ljubljana. Die Liste von Bürgermeister Zoran Jankovic
regiert souverän mit absoluter Mehrheit im Stadtparlament. Die unter seiner
Ägide erzielten Erfolge sind nicht von der Hand zu weisen: Während 2003 noch 58
Prozent aller Wege in Ljubljana mit dem Auto zurückgelegt wurden, waren sind es
2013 nur mehr 42 Prozent. Der Anteil der zu Fuß zurückgelegten Strecken vergrößerte
sich von 19 auf 35 Prozent.
Allerdings beschränken sich diese Fortschritte bislang
weitgehend auf die Glanzseite der historisch gewachsenen Stadt. In den
Wohnbezirken dümpelt das Bussystem noch vor sich hin, und viele Bewohner
bevorzugen daher zur Fortbewegung das eigene Fahrzeug, weitgehend von
Verbrennungsmotoren betrieben.
Dennoch honorierte die Europäische
Kommission die Bemühungen der slowenischen Hauptstadt um nachhaltige Mobilität,
aber auch schonende Landnutzung, Luftqualität, Lärm- und Müllvermeidung,
Wasserreinhaltung, regenerative Energie, grünes Wachstum, Natur- und
Artenvielfalt 2016: mit der Ernennung zur „Grünen Hauptstadt Europas“.