Was das Alter einer Technologie aussagt

Straßenbahnen wird gern vorgeworfen, sie seien eine veraltete Technologie. Erfunden vor über einhundert Jahren und untauglich für heutige oder künftige Probleme. Als ließe sich an dem Datum, an dem eine Technologie das Licht der Welt erblickte, ablesen, was diese taugt. Als hätten Erfindungen ein Haltbarkeitsdatum, eine Ablaufzeit und wären nach ein paar Jahr(zehnt)en nicht mehr zu gebrauchen. Die subtile Unterstellung: Eine Technik, die schon derartig alt ist, ist außerstande, heutige und künftige Probleme zu lösen. Sie sei – verglichen mit moderneren Erfindungen – die eindeutig schlechtere Wahl, weil “neuer” eben “besser” sei. 

Dabei werden zwei Dinge übersehen: Ob eine Technologie ‘taugt’ oder nicht, hängt nicht von ihrem Alter ab, sondern von ihrer Fähigkeit, Probleme zu lösen. Und zum Anderen entwickeln sich Technologien nach deren Erfindung durchaus weiter – die einen mehr, die anderen weniger.

Evolutionäre Züge

Technologien kommen und Technologien gehen. Einige verschwinden schon nach kurzer Zeit; andere bleiben Jahrzehnte oder gar Jahrhunderte erhalten. Wieder andere schaffen es nie über ein Konzept hinaus. Ihr Dasein endet in der Regel erst, wenn wahlweise das zu lösende Problem verschwindet oder aber eine bessere Lösung naheliegt. 

Die Eiserne Lunge beispielsweise verschwand trotz enormer Wirksamkeit und tausender, geretteter Leben nach nur wenigen Jahrzehnten wieder. Erfunden in den 1920ern und gebaut bis in die 1960er, wurden sie mit der Erfindung des Polio-Impfstoffes überflüssig. Eine quasi ausgerottete Krankheit bedarf so einer Erfindung nicht mehr.

Die meisten Technologien und Erfindungen werden allerdings irgendwann durch bessere Alternativen verdrängt. Die Diskette wurde durch die CD ersetzt, die CD dann durch USB-Sticks und die DVD. Die Dampfmaschine wich den Verbrennungsmotoren, das kohlebetriebene Bügeleisen dem elektrischen, das Gummirad ersetzte seine hölzernen und eisernen Vorgänger. 

Alter allein sagt nichts aus

Das Kommen und Gehen von Technologien zeigt evolutionäre Züge. Was besser in die jeweilige Problem-Nische passt, setzt sich durch. Was eine Aufgabe besser löst, bleibt. Der Rest schafft es bestenfalls ins Museum. Ein technologisches Survival of the Fittest. Immer wieder zu stellende Kernfrage: Wie fit ist eine Technologie, wie gut löst sie ein Problem?

Das bloße Alter ist dafür vollkommen unerheblich. Die erste, elektrische Straßenbahn dieser Welt fuhr 1881 in Lichterfelde bei Berlin. Es gibt deutlich ältere Technologien, die uns bis heute begleiten. Niemand käme auf die Idee, Fahrräder (erfunden 1817), Kühlschränke (1859) oder hierzulande ganz besonders beliebt: den Ottomotor (1. Modell 1862) als veraltete Technologie zu bezeichnen und sie deshalb pauschal abzulehnen. 

Setzte sich nie durch: Das Einrad-Motorrad. (Bild: Eénwielige motorfiets / One wheel motor cycle flickr photo by Nationaal Archief shared with no copyright restriction (Flickr Commons) )

Gerade im Transportsektor gibt eine ganze Reihe von Technologien, die neueren Datums als Straßenbahnen sind und sich wahlweise nicht durchsetzten oder bis heute nur ein Nischendasein fristen. Nuklear angetriebene Autos und Lokomotiven (1950) blieben meist nur Skizzen – glücklicherweise. Das Hovercraft überquerte 1959 erstmals den Ärmelkanal – nach einer Blütezeit im Fährdienst der britischen Inseln ist es heute eher Spezialtechnik. Zeppeline, erfunden 1895, gibt es heute nur noch als Werbeträger oder zu Forschungszwecken. Zivile Überschallflugzeuge flogen nur knapp vier Jahrzehnte, seit Anfang der 2000er ist keines mehr in Betrieb. Doppelstockgelenkbusse wurden weltweit überhaupt nur 13 Stück gebaut – und nur einer davon verkehrt noch als Bus. Auch vom Transrapid, anwendungsreif seit 1991, existiert bis heute nur eine Strecke mit regulärem Verkehr. Kein weiterer Ausbau geplant.

Schaffte den Durchbruch nicht: Der Transrapid. Die auf den realisierten und projektierten Strecken erreichbaren Reisezeitgewinne konnten die Mehrkosten gegenüber einer klassischen Eisenbahn nicht rechtfertigen.
(Bild: Állatka, Transrapid-emsland, als gemeinfrei gekennzeichnet, Details auf Wikimedia Commons)

Wie schnell das Alter-Argument in sich zusammenfällt, wird offenbar, wenn dann Alternativen genannt werden. Eine Straßenbahn sei zu alt und andere Technologien seien die Lösung – wie beispielsweise das Auto (erfunden 1886), angetrieben mit Elektromotor (1821) und Batterie (1799). Oder Busse (1895) mit Dieselmotoren (1896) oder Brennstoffzellen (1838). 

Aber zurück zu den Kernfragen, an denen sich jede Technologie messen lassen muss muss.

1. Existiert das Problem auch in Zukunft?

Weltweit wachsen die Städte, so auch das RheinMain-Gebiet, inklusive Mainz und Wiesbaden. Wiesbaden und Taunusstein denken über ganz neue Stadtviertel nach, Kastel und Biebrich werden fleißig nachverdichtet. Immer mehr Menschen in den Städten erzeugen immer mehr Nachfrage nach Mobilität. Zwar gibt es mit Heimarbeit, Onlineshopping und E-Learning durchaus Entwicklungen, die Menschen von Bewegungen abhalten könnten. Unterm Strich aber wird die Anzahl der Fahrgäste in Wiesbaden genauso wachsen wie seine Einwohnerzahl. Und das bei gleichbleibendem Platz, Städte sind nicht beliebig dehnbar.

Weder Quell- noch Zielorte der Pendler werden sich grundlegend ändern. Auch in Zukunft werden die Stadtteile dort liegen, wo sie heute liegen. Die Hotspots wie Hochschulen, große Arbeitgeber, die Innenstadt, der Hauptbahnhof, Veranstaltungsorte und Nachbargemeinden wechseln eher selten den Standort. Auch die Hauptverkehrsachsen und Flaschenhälse wie Autobahnen, Brücken und Bahnlinien werden dort bleiben, wo sie sind.

Auch kleinere, womöglich autonom fahrende Einheiten versprechen da keine Abhilfe. Sie sind eine wertvolle Ergänzung in der Feinverteilung, als Zubringer, in ländlichen Regionen oder in der Nacht. Auf den Hauptverkehrsachsen und in den Stoßzeiten machen sie aber keinen Sinn. Es ist kontraproduktiv, wenn etwa auf der Heuss-Brücke statt einem vollen Gelenkbus 15 bis 20 autonome Kleinbusse fahren. Autonome Autos mögen Parkplatzprobleme entschärfen, führen aber zu mehr fließendem Verkehr. Ridesharing, egal ob mit oder ohne Fahrer, führt zu einer Kannibalisierung des platzeffizienten, öffentlichen Nahverkehrs und damit zu einem höheren Flächenverbrauch in den Städten. Ein höherer Flächenverbrauch, der auch durch eine zeitliche Entzerrung nicht kompensiert wird.

Es bleibt auch in Zukunft der Bedarf an Massenverkehrsmitteln – als Rückgrat eines intelligent verknüpften, multimodalen Angebots.

2. Löst die Technologie ‚Straßenbahn‚ das Problem?

Sind Straßenbahnen funktionierende Massentransportmittel? Ja – das ist sowohl einhellige Meinung der Verkehrswissenschaft als auch in über einhundert Städten live zu beobachten.

3. Welche Alternativen existieren?

Die Erfinder dieser Welt entwickelten eine ganze Reihe Alternativen zu Straßenbahn, die das Problem Transport vieler Menschen mit ähnlicher Erschließungsfunktion und Leistungsfähigkeit lösen. Welche das sind, beleuchten wir in einem separaten Artikel im Detail.

4. Ist die Straßenbahn die bessere Wahl?

Auf diese Frage gibt es keine pauschale, immer und überall richtige Antwort. Die Straßenbahn kann – unter Einbeziehung der Rahmenbedingungen, der Ziele und der Ressourcen die bessere Wahl sein. Aber das ist sie nicht automatisch.

Die Antwort kann deshalb am Ende einer detaillierten Untersuchung stehen, die sich standardisierter Methoden bedient und die zur Auswahl stehenden Alternativen vergleicht.

Zurück zur Straßenbahn, zurück in die Zukunft

Die Geschichte der Straßenbahn ist eine Geschichte voller Comebacks. So wurden die Straßenbahnnetze in den USA gewaltsam ausgerottet: Die großen Automobilhersteller kauften in den 1930er bis 1960er Jahre reihenweise Straßenbahnbetriebe und fuhren sie vorsätzlich gegen die Wand – das Ziel: Mehr Absatz der eigenen Autos – später aufgedeckt und bekannt geworden als der große Straßenbahnskandal. Heute sprießen in der den USA wieder Straßenbahnnetze aus dem Boden – selbst in Detroit, der Autostadt schlechthin, fahren seit 2017 wieder Straßenbahnen. 

Waren 1985 in Frankreich nur drei Städte mit Straßenbahnen übrig, stieg die Zahl auf aktuell 25. Selbst China, welches oft als Technologievorreiter genannt wird und zuweilen auch unkonventionelle Lösungen erprobt, setzt auf den schienengebundenen, öffentlichen Nahverkehr und baute so in den letzten zwei Jahrzehnten in Dutzenden Städten neue Netze. Auch im Silicon Valley fährt eine Straßenbahn.

Nun hat Wiesbaden, das seine Straßenbahn (und sein Stadtbild) der enttäuschten Verheißung einer autogerechten Stadt opferte, eine ähnliche Chance.

Dass die Straßenbahn weltweit trotz all dieser erheblichen Rückschläge Comebacks erlebt, zeigt, dass sie als Problemlösung keineswegs veraltet ist. Im Gegenteil. Die Unterstellung verkennt wesentliche Entwicklungen der Straßenbahn der letzten Jahrzehnte. Die Zeiten elektrisch angetriebener Kutschen sind lang vorbei. Denn moderne Straßenbahnen sind bei weitem nicht mehr die kleinen, ruckeligen Kisten, die noch in den 50ern durch Wiesbaden fuhren und bei denen Ein- und Aussteigen einem Treppenlauf gleichkam. 

Abgestimmt aufs Stadtbild: Moderne Straßenbahn in Le Havre.

Straßenbahnen wurden geräumiger, energieeffizienter, komfortabler. Der Einstieg ist fast ebenerdig, sie fahren deutlich ruhiger, können abschnittsweise ohne Oberleitung fahren und beim Bremsen sogar Energie zurückgewinnen. Sie bieten Abstellfläche für Rollstühle und Kinderwagen, verfügen über Steckdosen, Klimaanlagen, WLAN und moderne Informationssysteme. Potsdam und Darmstadt erproben aktuell autonom fahrende Straßenbahnen. Wer will, bekommt sogar individuell auf das Stadtbild zugeschnittene Züge geliefert.

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The most important and urgent problems of the technology of today are no longer the satisfactions of the primary needs or of archetypal wishes, but the reparation of the evils and damages by the technology of yesterday.

Dennis Gabor, in Innovations: Scientific, Technological and Social (1970)
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